Am 11. November 1933 versammelten sich in der Leipziger Alberthalle mehrere Tausend Akademiker und bekannten sich demonstrativ zu Adolf Hitler.[1] Organisiert wurde das Ereignis vom Nationalsozialistischen Lehrerbund und der Landesuniversität in Vorbereitung auf die einen Tag später stattfindende Volksabstimmung über den Austritt des Deutschen Reiches aus dem Völkerbund. Einen schriftlichen Aufruf dazu unterzeichneten über 900 Professoren, Dozenten und Universitätsangehörige verschiedener Universitäten, von denen viele auch aus Leipzig stammten. Zu den Rednern der Proklamationsveranstaltung gehörten neben dem Philosophen Martin Heidegger (1889–1976) auch der Rektor der Leipziger Universität Richard Arthur Golf (1877–1941) und der Leipziger Rechtswissenschaftler Eberhard Schmidt (1891–1977).
Das Ereignis zeigte, dass ein Teil der Universitätsangehörigen die Machtübertragung an die Nationalsozialisten trotz deren plakativ antiintellektuellen Auftretens begrüßte oder ihr zumindest opportunistisch gegenüberstand. Antidemokratische Grundhaltungen, judenfeindliche Einstellungen und ein völkisches Verständnis nationaler Zugehörigkeit teilten jedenfalls auch höher Gebildete mit den zumeist kleinbürgerlichen Anhängern der NSDAP, denen oftmals nur ihr „Radauantisemitismus“ vorgeworfen wurde. Der im Frühjahr 1933 begonnene Umbau des Bildungssystems führte an den Hochschulen jedenfalls kaum zu Unmutsäußerungen.[2]
Zunächst kennzeichnete die nationalsozialistische Hochschulpolitik ein Kompetenzgerangel unterschiedlicher Machtinstanzen. Die Widersprüchlichkeit zeigte sich beispielsweise bei der Durchsetzung des „Führerprinzips“ an den Hochschulen. Fortan war der Rektor einer Hochschule als „Führer“ seiner Einrichtung dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung unterstellt. Formen akademischer Selbstverwaltung gingen zugunsten einer zentralstaatlichen Struktur verloren. Andererseits blieben personelle Entscheidungsbefugnisse weitgehend Sache der Landesbehörden. Ganz eindeutig aber richtete sich die Umgestaltung der Hochschulen gegen politische Gegner und rassistisch Verfolgte des Nationalsozialismus.
Am 7. April 1933 trat das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ in Kraft. Am 25. April 1933 folgte ein „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“, das sich vor allem gegen jüdische Studenten richtete. Vom sogenannten „Berufsbeamtengesetz“ waren etwa 19 Prozent der deutschen Hochschullehrer betroffen. Wegen missliebiger politischer Betätigung oder aufgrund ihrer „nichtarischen“ Herkunft verloren sie ihre Stellen, oftmals auch ihre akademischen Titel. Die Älteren unter ihnen wurden in den vorzeitigen Ruhestand gezwungen.[3]
An der Universität Leipzig fanden diese Maßnahmen bei einem großen Teil der Studenten Zustimmung. Schon im Wintersemester 1931/32 hatte an der Landesuniversität der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund die Wahlen zum Allgemeinen Studentenausschuss gewonnen. Immer wieder organisierten seine Mitglieder antisemitische Kampagnen, die auch nach dem Januar 1933 fortgeführt wurden.[4] So gründeten nationalsozialistische Studenten am 30. März 1933 den Nationalen Ausschuss für die Erneuerung der Universität Leipzig. Dieser forderte ein prinzipielles Verbot der Anstellung jüdischer und nichtdeutscher Hochschullehrer. Es folgten Kampagnen gegen einzelne Professoren und Dozenten, die ihre Wirkung auf das Dresdner Volksbildungsministerium nicht verfehlten: Noch bevor die gesetzlichen Regelungen der neuen Machthaber in Kraft traten, wurden in Leipzig Hochschullehrer entlassen.[5]
Zu den Opfern der ersten Entlassungswelle zählten der Osteuropahistoriker Georg Sacke (1902–1945), der Nationalökonom Gerhard Kessler (1883–1963) sowie der Zeitungswissenschaftler Erich Everth (1878–1934). Alle drei waren als Gegner des Nationalsozialismus aufgetreten. Nach Diffamierungen in der Tagespresse und Boykotten von Lehrveranstaltungen wurden sie noch im Frühjahr 1933 von ihrer Lehrtätigkeit entbunden.[6] (Bild 1)
Selbst nachdem gesetzliche Maßnahmen gegen jüdische Hochschullehrer beschlossen waren, forderten nationalsozialistische Studenten eine schnellere und schärfere Anwendung. Sie lancierten einen Zeitungsartikel gegen den Mathematiker Leon Lichtenstein (1878–1933), der dessen Weiterbeschäftigung an der Universität skandalisierte. (Bild 2) Der herz- und nierenkranke Lichtenstein starb in den darauffolgenden Semesterferien wohl auch an den Folgen der aufreibenden öffentlichen Diskussion um seine Person.[7] Aufgrund der fortgesetzten studentischen Kampagnen sah sich die Ministerialregierung Sachsens gezwungen, ihre Verwaltungshoheit in personellen Fragen der Hochschulen nochmals zu bekräftigen.[8] Dies bedeutete jedoch nicht das Ende der Vertreibungen, sondern lediglich ihre Einpassung in bestehende Verwaltungsstrukturen. Fortan waren es die Dekane der jeweiligen Fakultäten, die jene Hochschullehrer zu benennen hatten, auf welche die Ausschlusskriterien des „Berufsbeamtengesetzes“ zutrafen.
Dieses Gesetz richtete sich im dritten Paragrafen gegen „nichtarische“ Beamte, beinhaltete jedoch auch eine Ausnahmeregelung: So konnte von einer Entlassung abgesehen werden, wenn die betreffende Person bereits vor dem 1. August 1914 verbeamtet war oder als Frontkämpfer am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte. Diese Ausnahmeregelung galt nicht für Hochschullehrer, denen kommunistisches oder sozialdemokratisches Engagement (§ 2) zur Last gelegt wurde oder welche aus anderen Gründen als politisch unzuverlässig galten (§ 4). Schließlich konnten Entlassungen mit verwaltungstechnischen Notwendigkeiten (§ 6) begründet werden. Auf diese Weise wurde eine Möglichkeit geschaffen, das für viele jüdische Professoren geltende Frontkämpferprivileg außer Kraft zu setzen.
Bis zum Sommer 1933 wurden an der Leipziger Universität 13 Hochschullehrer mit jüdischer Herkunft in den Ruhestand versetzt oder entlassen.[9] (Bild 3) Vereinzelt kam es dabei zu Versuchen, die offiziellen Anordnungen zu umgehen. So unterstützten die Dekane der Philosophischen Fakultät Hans Freyer (1887–1969) und Ludwig Weickmann (1882–1961) die Mathematiker Levi und Lichtenstein. In einem Schreiben an das Ministerium hoben sie deren wissenschaftliche Leistungen als auch ihre vaterländischen Verdienste hervor. Doch selbst in dem Bemühen, die anerkannten Professoren an der Fakultät zu halten, wagten oder erwogen sie keinen grundlegenden Widerspruch gegen den antisemitischen Hintergrund der geplanten Entlassungen. So heißt es am Ende der Schreibens: „Wir begrüßen durchaus die auf die Zurückdrängung des jüdischen Einflusses an den deutschen Hochschulen gerichteten Bestrebungen der Regierung, dürfen aber hervorheben, daß die Philosophische Fakultät Leipzig zu den am wenigsten ‚verjudeten‘ Fakultäten gerechnet werden kann. Daß ein irgendwie bedrohlicher Einfluß des jüdischen Elements auf den Geist der Fakultät zu konstatieren und zu befürchten wäre, können wir mit gutem Gewissen verneinen.“[10] (Bild 4) Es lässt sich nicht mit letzter Sicherheit feststellen, in welchem Grad diese Bezugnahme auf die antisemitische Hochschulpolitik des Regimes taktischen Überlegungen oder, bereits zu diesem Zeitpunkt, voller ideeller Überzeugung geschuldet war.
Die nationalsozialistische Personalpolitik traf zum Teil junge Berufsanfänger, wie den Rechtshistoriker Martin David (1898–1986). Einigen von ihnen gelang vergleichsweise früh die Emigration. David wurde 1925 in Leipzig promoviert und hatte sich 1930 mit einer Arbeit über Römisches Recht habilitiert. Er emigrierte in die Niederlande, wo er bereits ab Oktober 1933 wieder als Hochschullehrer arbeiten konnte und mit dem Erwerb der niederländischen Staatsbürgerschaft zumindest bis zur deutschen Besetzung Schutz und Anerkennung fand.
Anders erging es dem Wirtschaftshistoriker Alfred Doren (1869–1934). (Bild 5) Bereits deutlich älter und auf dem Höhepunkt seiner Karriere stehend, versuchte er, sich in Leipzig zu behaupten. Die beiden Bände seines Hauptwerks Studien aus der Florentiner Wirtschaftsgeschichte stammten aus den Jahren 1901 und 1908. In Selbstverständnis und Habitus verstand er sich als Mitglied der deutschen Kulturnation. Umso schwerer fiel ihm die Einsicht, dass der an die Macht gekommene völkisch-biologistische Antisemitismus seine kulturelle Zugehörigkeit zur deutschen Nation grundsätzlich dementierte. Seit 1908 wirkte Doren in Leipzig als außerordentlicher Professor. 1914 meldete er sich mit Mitte Vierzig freiwillig zum Kriegsdienst. Da man ihn für den Fronteinsatz als untauglich einstufte, wertete er in der Politischen Abteilung des Generalgouvernements Belgien Archivakten aus. 1923 kehrte Doren nach einem zwischenzeitlichen Aufenthalt in Berlin auf ein Extraordinariat für Wirtschaftsgeschichte nach Leipzig zurück. Als er im April 1933 als einer der ersten Hochschullehrer jüdischer Herkunft nach den Bestimmungen des „Berufsbeamtengesetzes“ entlassen werden sollte, attestierte ihm der Dekan der Philosophischen Fakultät eine zweifelsfrei vaterländische Einstellung. (Bild 6) Diese Bemühungen blieben ohne Erfolg. Noch im Frühjahr 1933 verlor Doren seine Stellung und verstarb im Jahr darauf. (Bild 7)
Auch dem Germanisten Georg Witkowski (1863–1939) widerfuhr die kompromisslose Zurücknahme des Versprechens kultureller Teilhabe und Integration als kaum fassbarer Schicksalsschlag. (Bild 8) Der viele Jahre an der Universität Leipzig tätige Professor für deutsche Sprache und Literatur thematisierte in seinen privaten, für die Familie 1937 geschriebenen Lebenserinnerungen seine Entlassung aus der Universität lediglich als „Missgeschick“, über das der „Schleier des Vergessens“ zu breiten sei.[11] Sie markieren den Versuch, die erfahrene Ablehnung und Ausgrenzung sprachlich zu minimieren. Dem düsteren Ende zum Trotz hielt Witkowski, der sein Arbeitsleben den deutschen Klassikern und insbesondere Goethe gewidmet hatte, auch nach seiner Entlassung an seinem Glauben an kulturelle Zugehörigkeit fest.[12] Diese Auffassung war für den 1896 zum Protestantismus konvertierten Germanisten vor allem in Literatur, Sprache und Theater lebendig geworden und bestärkte seinen politischen Patriotismus. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete er sich mit fast 51 Jahren als Kriegsfreiwilliger. Zwar wurde er aufgrund seines Alters abgewiesen, versuchte allerdings durch die Organisation „Vaterländischer Abende“ zur Erbauung der Leipziger Heimatfront beizutragen. Für dieses Engagement erhielt er später das Kriegsverdienstkreuz.[13] Als am 6. November 1918 Abgesandte des Kieler Matrosenaufstandes Leipzig erreichten, reagierte der zur Staatstreue erzogene Gelehrte zunächst mit Ablehnung. Während der Weimarer Republik verstand sich Witkowski indes nicht als reaktionärer Gegner der Regierung. Mit Erleichterung nahm der weit über Sachsen hinaus angesehene Wissenschaftler zur Kenntnis, dass die neue republikanische Regierung nicht in den Lehrbetrieb eingriff. Zudem zeigte er sich offen für den kulturellen Aufbruch der 1920er Jahre. In Leipzig beriet und unterstützte Witkowski das städtische Theater, das von seinem jüdischen Freund Alwin Kronacher geleitet wurde. Dessen Inszenierungen zeitgenössischer Werke von Wedekind, Strindberg, Hasenclever, Brecht und Döblin machten die sächsische Handelsmetropole zu dieser Zeit zu einem Zentrum der Theateravantgarde in Deutschland.
Als Rezensent und Autor machte sich Witkowski angreifbar. In der Weimarer Republik machten völkische Nationalisten seine jüdische Herkunft zum Gegenstand wüster antisemitischer Kampagnen.[14] Einen solchen Anlass bildete eine kritische Besprechung eines Werks des katholischen Theologen und Germanisten Josef Müller über den Dichter Jean Paul in der von Witkowski herausgegebenen Zeitschrift für Bücherfreunde. Müller beschwerte sich daraufhin im November 1924 beim Dekanat der Philosophischen Fakultät. Er verlangte zu wissen, ob Witkowski „polnischer Jude“ sei, und forderte „Genugtuung für dessen unehrenhaftes Verhalten“. Dieses Anliegen wurde allerdings durch den Dekan zurückgewiesen. (Bild 9)
Am Ende seiner Laufbahn wurde Witkowski von der Universität ausgeschlossen, an der er über Jahrzehnte die Kanonisierung deutscher Literaturklassiker vorangetrieben hatte. Nachdem er 1931 noch auf Bitten der Fakultät aus dem Ruhestand zurückgekehrt war und seine Lehrtätigkeit fortgesetzt hatte, suspendierte ihn das Sächsische Ministerium für Volksbildung im April 1933. In einer anonymen Denunziation war dem Verehrer Lessings, Schillers und Goethes zuvor „eine Art der Literaturbetrachtung“ vorgeworfen worden, die „das nationale Empfinden der Hörer erheblich verletzt“ habe.[15] (Bild 10) Verzweifelt wandte sich Witkowski an das Ministerium. Er verwies auf seine Verdienste und die ihm im August 1932 durch Reichspräsident Paul von Hindenburg verliehene Goethe-Medaille. Seine Bemühungen blieben ohne Erfolg. Wenige Wochen nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verstarb Witkowski im niederländischen Exil.
Den Entlassungen des Jahres 1933 folgten weitere. Sie trafen nun auch Universitätsangestellte, für die bestehende gesetzliche Ausnahmeregelungen galten. Zu ihnen gehörten im April 1935 unter anderem der Altorientalist Benno Landsberger (1890–1968) und der Religionssoziologe Joachim Wach (1898–1955). (Bild 11 und 12) Beide hatten im Ersten Weltkrieg Kriegsdienst geleistet. Dies ermöglichte zunächst ihre Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst.[16] (Bild 13) Die Entlassungen erfolgten letztlich auf politische Initiative des sächsischen Gauleiters und glühenden Antisemiten Martin Mutschmann.[17] Nachdem sich dieser im Machtkampf um die Führungsposition in Sachsen gegen den Ministerpräsidenten Manfred von Killinger durchgesetzt hatte, drängte Mutschmann auf die Entlassung der letzten jüdischen Hochschullehrer. Die amtliche Begründung der Säuberungsmaßnahmen als verwaltungstechnische Notwendigkeit war dabei nur vorgeschoben. Erst im Nachhinein billigte die Reichskanzlei den Verfolgungseifer des sächsischen Gauleiters offiziell.[18]
Mit der Einführung der „Nürnberger Rassengesetze“ am 15. September 1935 verloren die bis dahin bestehenden Ausnahmebestimmungen für Hochschullehrer jüdischer Herkunft offiziell ihre Geltung. Aufgrund der vorauseilenden Vertreibungsmaßnahmen Mutschmanns kam es nach dieser erneuten gesetzlichen Verschärfung zunächst zu keinen weiteren Entlassungen in Leipzig. Allerdings wurden dem bereits emeritierten Ägyptologen Georg Steindorff (1861–1951) und dem ebenfalls in den Ruhestand versetzten Statistiker Eugen Würzburger (1858–1938) nun zusätzlich die Lehrbefugnisse entzogen.
In den folgenden Jahren setzte sich die Überprüfung des Hochschulpersonals fort. Einen besonderen Fall bildete die Personalie des Kieferchirurgen Wolfgang Rosenthal (1882–1971), der 1937 seine Lehrbefugnis verlor. Rosenthal hatte sich 1918 in Leipzig habilitiert und war 1928 zum außerplanmäßigen Professor an der Medizinischen Fakultät ernannt worden. Im Mai 1933 trat er in die NSDAP ein.[19] Noch im April 1936 erhielt er das Angebot, verbunden mit einer planmäßigen Professur die chirurgische Abteilung der Zahnärztlichen Universitätsklinik in Hamburg zu leiten. Den Karrieresprung verhinderte jedoch eine Mitteilung der Reichsstelle für Sippenforschung: Darin wurde Rosenthals Großvater Johannes Josef Rosenthal (1820–1878) trotz seiner Taufe 1849 als „Volljude“ eingestuft. In der Folge verlor Wolfgang Rosenthal seine Anstellung an der Leipziger Universität. Er eröffnete eine kiefernchirurgische Praxis und bemühte sich fortan, seine „arische“ Abstammung nachzuweisen. So brachte er eine eidesstattliche Erklärung seiner Schwester bei, nach der der gemeinsame Vater einer unehelichen Affäre der Großmutter mit einem deutschen Adeligen entstammte. Zudem beauftragte er eine „erb- und rassenkundliche“ Untersuchung durch das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin. Im Mai 1943 kamen die Gutachter zu dem Schluss, dass Rosenthal „deutscher oder artverwandter“ Abstammung sei. Nach dieser Rehabilitierung ging er zunächst nicht an die Universität zurück, sondern übernahm die Leitung der Luftrettungsstelle Leipzig-Mitte. Erst in der DDR machte er wieder als Hochschullehrer Karriere. Das Beispiel Rosenthal zeigt, wie zentral biologistische Grundannahmen für die Entlassungspraxis an der Universität Leipzig in der Zeit des Nationalsozialismus waren.
Insgesamt verloren von 1933 bis 1945 47 Professoren und Dozenten aus politischen und rasseideologischen Gründen ihre Stellung in Leipzig.[20] Das entsprach etwa zwölf Prozent des gesamten Lehrkörpers.[21] Die im Vergleich zu Gesamtdeutschland geringere Zahl weist daraufhin, dass bereits vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten an der sächsischen Landesuniversität weniger Gelehrte jüdischer Religion und Herkunft Anstellung fanden.
Von den Entlassenen gelang 28 die Emigration. Fünf kamen im Holocaust ums Leben: Der Privatdozent Ludwig Friedheim (1862–1942), Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, starb im Oktober 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt, in das er wenige Wochen zuvor verschleppt worden war.[22] Dort kam im Dezember des gleichen Jahres auch Siegmund Hellmann (1872–1942) zu Tode. Der ordentliche Professor für Mittelalterliche Geschichte war 1923 gegen die Vorschläge der Fakultät auf Drängen der linkssozialistischen Regierung in Sachsen von München nach Leipzig berufen worden.[23] Als linksliberalem Gelehrten, der sich immer wieder publizistisch in politische Debatten einmischte, schlug ihm an der Universität viel Ablehnung entgegen. Nach seiner Entlassung 1933 zog er sich in seine Heimatstadt München zurück. Von dort wurde er im Juli 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert.
Ermordet wurde auch der seit 1924 an der Universität Leipzig als Lektor und später als außerordentlicher Professor für die Wissenschaft des späten Judentums tätige Lazar Gulkowitsch (1898–1941). Er emigrierte im Januar 1934 nach Estland, nachdem ihm im vorangegangenen Oktober die Lehrbefugnis entzogen worden war. Im Februar 1934 erkannte man ihm seine Einbürgerung ab. (Bild 14 und 15) An der Universität Tartu wirkte er sechs Jahre als Professor für jüdische Studien und wurde zum Begründer einer jüdischen Begriffsgeschichte. In Folge der sowjetischen Besetzung im August 1940 wurde sein Lehrstuhl aufgelöst. Im Juli 1941 marschierte die deutsche Wehrmacht in Estland ein. Zusammen mit einheimischen Kollaborateuren ermordeten deutsche Einsatzkommandos etwa 1.000 jüdische Bewohner, denen die Flucht nicht gelungen war. Unter diesen befanden sich Gulkowitsch und seine Familie.
Zu den Opfern des Holocaust gehörte auch Tibor Szalai (1901–1945). Szalai hatte 1928 an der Philosophischen Fakultät promoviert und arbeitete danach als Lektor. (Bild 16 und 17) Nach seiner Entlassung 1933 lebte er als Angehöriger der ungarischen Minderheit in der Tschechoslowakei. Angaben der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem zu Folge starb er 1945 im Konzentrationslager Oranienburg.[24]
Der Romanist Wilhelm Friedmann (1884–1942) nahm sich am 10. Dezember 1942 in der Pyrenäen-Gemeinde Bedous das Leben, nachdem er von einer deutschen Polizeistreife verhaftet worden war.[25] (Bild 18) Friedmann lebte mit gefälschtem Pass im von Deutschland besetzten Teil Frankreichs. Er hatte sich 1910 in Leipzig habilitiert. Nach dem Ersten Weltkrieg war er als Privatdozent für französische Gegenwartsliteratur und Lektor für Italienisch an der Universität tätig. Seine Beschäftigung mit französischer Sprache und Literatur, pazifistische Positionen sowie seine jüdische Herkunft – Friedmann war mit 18 Jahren zum Protestantismus konvertiert – wurden dem Gelehrten immer wieder vorgeworfen. 1933 wurde er als „politisch unzuverlässig“ entlassen. Zusätzlich wurde ihm wegen seiner jüdischen Herkunft die Lehrbefugnis aberkannt. (Bild 19) Friedmann emigrierte nach Frankreich. Er lehrte zunächst an der Sorbonne und der Freien Deutschen Hochschule. Nach dem Überfall der Wehrmacht im Jahr 1940 wertete er beim französischen Informationsministerium deutsche Radiosendungen aus. Nach der Niederlage floh er aus Paris und legte sich eine Tarnidentität zu. Mit seinem Freitod schützte er seine Frau und seine Tochter vor der Ergreifung.
Die Vertreibung und Verfolgung von Akademikern jüdischer Religion und Herkunft setzte der Hoffnung, über Bildung und Wissenschaft gesellschaftliche Teilhabe zu erreichen, ein jähes Ende. Gleichzeitig negierten sie das Selbstbild einer weitgehend autonomen Gelehrtenuniversität, in der die Freiheit und die Qualität des Geistes als höchstes Gut galten. Während das nationalsozialistische Deutschland ganz Europa mit Krieg und Vernichtung überzog, lief der Universitätsbetrieb in Leipzig bis auf eine kurze Unterbrechung zu Beginn des Zweiten Weltkrieges weiter. Bereits mit dem Vierjahresplan von 1936 wurde das Forschungsprogramm der Hochschulen auf das Ziel ausgerichtet, Deutschland kriegsfähig zu machen. Die daraus resultierende Anwendungsorientierung beeinflusste insbesondere die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Abteilung der Philosophischen Fakultät, die Medizinische Fakultät, aber auch geisteswissenschaftliche Einrichtungen wie das Institut für Rassen- und Völkerkunde und das Indogermanische Institut.[26]
Im Laufe des Krieges beteiligten sich die nicht an die Front einberufenen Studenten und Hochschullehrer an kriegsunterstützenden Einsätzen etwa in der Rüstungsindustrie, der Landwirtschaft oder im Sanitätsdienst. Die Begeisterung für den Nationalsozialismus hatte zu diesem Zeitpunkt bereits nachgelassen. Nichtsdestotrotz war die Universität im Interesse der nationalsozialistischen Ideologie „gleichgeschaltet“. Ihre Angestellten sahen sich überwiegend als Mitläufer oder überzeugte Anhänger einer „kämpfenden Wissenschaft“. Nur in einem Fall kann von einer studentischen Widerstandsgruppe gesprochen werden: Ein kleiner Kreis um den Japanologie-Studenten Gerhard Mehnert nahm Kontakt zur illegalen KPD und zum Kommunistischen Jugendverband auf. Die Gruppe wurde 1936 zerschlagen und Mehnert zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Ansonsten hielt die Loyalität der überwiegenden Mehrzahl der Studenten und Hochschulangestellten bis zum militärischen Ende der nationalsozialistischen Herrschaft.[27]
Am 4. Dezember 1943 wurden bei einem britischen Luftangriff auf Leipzig auch große Teile der Universitätsgebäude zerstört. Bis zum April 1945 war nur noch ein Notbetrieb möglich. Mit dem Führererlass über die Bildung des Deutschen Volkssturms vom 25. September 1944 wurden die meisten der bisher noch verbliebenen Universitätsangehörigen zum Militärdienst verpflichtet.
[1] Kurt Nowak, Protestantische Universitätstheologie und ,Nationale Revolution‘, in: Leonore Siegele-Wenschkewitz/Carsten Nicolaisen (Hg.): Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus, Göttingen 2003, 89–112, hier bes. 110–111.
[2] Vgl. Michael Grüttner, Die deutschen Universitäten unterm Hakenkreuz, in: Michael Grüttner/John Connelly (Hg.): Zwischen Autonomie und Anpassung. Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Paderborn 2003, 67–100.
[3] Michael Grüttner/Sven Kinas, Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933–1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (2007), H. 1, 123–186; grundlegend vgl. auch Michael Parak, Hochschule und Wissenschaft in zwei deutschen Diktaturen. Elitenaustausch an sächsischen Hochschulen 1933–1952, Köln 2004.
[4] Ronald Lambrecht, Studenten in Sachsen 1918–1945. Studien zur studentischen Selbstverwaltung, sozialen und wirtschaftlichen Lage sowie zum politischen Verhalten der sächsischen Studentenschaften in Republik und Diktatur, Leipzig 2011, 310–346.
[5] Ulrich von Hehl, In den Umbrüchen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Universität Leipzig vom Vorabend des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 1909 bis 1945, in: Franz Häuser (Hg.), Geschichte der Universität Leipzig, 1409–2009, Bd. 3, Leipzig 2010, 17–329, hier: 192–193.
[6] Ronald Lambrecht: Politische Entlassungen in der NS-Zeit. Vierundvierzig biographische Skizzen von Hochschullehrern der Universität Leipzig, Leipzig 2006, 20–21.
[7] Hehl, In den Umbrüchen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, 197.
[8] Lambrecht, Politische Entlassungen in der NS-Zeit, 21.
[9] Zu ihnen gehörten: Martin David, Alfred Doren, Karl Drucker, Ludwig Friedheim, Max Goldschmidt, Lazar Gulkowitsch, Hans Holldack, Erwin Jacobi, Erich Marx, Felix Skutsch, Owsei Temkin, Georg Witkowski und Adolf Zade. Angaben nach Lambrecht, Politische Entlassungen in der NS-Zeit, 23.
[10] Hehl, In den Umbrüchen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, 198.
[11] Nicolas Berg/Arndt Engelhardt/Anna Lux, Jüdische Teilhabe und antisemitischer Ausschluss. Zum Problem des Konzepts ,Nationalliteratur‘ am Beispiel der Leipziger Germanistik, in: Stephan Wendehorst (Hg.) Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, 389–423, hier bes. 401.
[12] Nicolas Berg, Wissenschaftsglaube an die deutsche Klassik. Der Leipziger Germanist Georg Witkowski (1863–1939), unveröffentlichter Vortrag vom 26. September 2017 auf der Sitzung des Rotary-Clubs Leipzig.
[13] Georg Witkowski, Von Menschen und Büchern. Erinnerungen 1863–1933, Leipzig 2010, 184.
[14] Berg, Wissenschaftsglaube an die deutsche Klassik.
[15] Schreiben des Ministeriums für Volksbildung an Witkowski vom 29. April 1933, Universitätsarchiv Leipzig, PA 1074, Bl. 552.
[16] Entlassen beziehungsweise in den Ruhestand versetzt wurden außerdem: Leo Rosenberg (1879–1963), Bruno Moll (1885–1968), Ernst Bettmann (1899–1988), Friedrich Levi (1888–1966) und Fritz Weigert (1876–1947).
[17] Hehl, In den Umbrüchen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, 200.
[18] Lambrecht, Politische Entlassungen, 23–24.
[19] Dominik Groß, Wolfgang Rosenthal. Der prominenteste Kieferchirurg, in: ZM online, 16.05.2018, Heft 10/2018, https://www.zm-online.de/archiv/2018/10/gesellschaft/wolfgang-rosenthal-der-prominenteste-kieferchirurg/ (letzter Aufruf: 24.03.2022).
[20] Grüttner/Kinas, Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933–1945, hier bes. 179–180.
[21] Ebd., 179.
[22] Gerald Wiemers, Ludwig Friedheim, in: Leipzig-Lese, https://www.leipzig-lese.de/index.php?article_id=499 (letzter Aufruf: 24.03.2022).
[23] Hermann Heimpel, Hellmann, Siegmund, in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 8, Berlin 1969, 483.
[24] Grüttner/Kinas, Die Vertreibung, von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933–1945, 180.
[25] Utz Maas, Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933–1945, https://zflprojekte.de/sprachforscher-im-exil/index.php/catalog/f/209-friedmann-wilhelm-reginald/ (letzter Aufruf: 25.03.2022).
[26] Hehl, In den Umbrüchen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, 311–324.
[27] Ebd., 324–325.