Georg Witkowski

Georg Witkowski

Georg Witkowski (1863–1939)

Der in Berlin geborene Literaturwissenschaftler Georg Witkowski (1863–1939) prägte das kulturelle Leben in Leipzig zu Beginn des 20. Jahrhunderts entscheidend mit. Mit seinen Eltern, dem Bankier Ignaz Witkowski und der Mutter Julie, geb. Latz, zog er 1877 nach Leipzig. Dort absolvierte Witkowski das Abitur und nahm ein Studium der Klassischen Philologie, Philosophie und Germanistik auf.[1] (Bild 1) Sein Forschungsinteresse richtete sich bereits in dieser Zeit schwerpunktmäßig auf die deutsche Literatur des 17. bis 19. Jahrhunderts. 1886 promovierte er an der Universität München mit der Arbeit Diederich von dem Werder. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte des siebzehnten Jahrhunderts. (Bild 2) Für seine Habilitation zur Geschichte der anakreontischen Dichtung in Deutschland (1889) kehrte er an die Universität Leipzig zurück.[2] (Bild 3) Dort lebte, lehrte und publizierte er bis kurz vor seinem Tod. Neben literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu den Klassikern, insbesondere zu Schiller, Goethe und Lessing, befasste er sich auch mit Themen der Theaterpraxis sowie der Methodologie des Fachs Literaturwissenschaft. 1899 schloss er eine Ehe mit Petronella Pleyte, aus der zwei Töchter hervorgingen. Bereits seit seiner Kindheit pflegte Witkowski ein recht distanziertes Verhältnis zu seiner religiösen Erziehung und dem jüdischen Glauben insgesamt. So schildert er etwa in seiner Autobiographie, dass er das Geld, welches seine Eltern, die einer Reformgemeinde angehörten, ihm für den Bus zum außerschulischen Religionsunterricht gaben, für die Erfüllung seines Wunsches nach einem Hufeisenmagneten sparte.[3] 1896 ließ Witkowski sich in Jena protestantisch taufen. Sein Entschluss fiel in eine Zeit, in der die Zahl der Religionsübertritte von Juden im Deutschen Reich allgemein zunahm. Zwar betonte er rückblickend, diesen Schritt aus innerer Überzeugung getan zu haben. Er habe seinem dogmenfreien Glauben eine angemessene Form geben wollen. Ausdrücklich bezog er sich dabei auf Lessing. Er wusste aber auch um die durch wachsenden Antisemitismus bedingten hohen Zugangshürden für die Anstellung jüdischer Wissenschaftler an deutschen Hochschulen. Sein Religionswechsel scheint mithin weniger religiöses Bekenntnis, sondern vor allem eine Hinwendung zu den kulturellen Leitsternen des deutschen Bildungsbürgertums gewesen zu sein.[4]

Trotz seiner Konversion behinderten die antisemitischen Vorbehalte innerhalb des deutschen Wissenschaftsbetriebs seine akademische Laufbahn. Zwar erlangte er nach längerer Tätigkeit als Privatdozent 1919 die außerordentliche Professur, 1930 die ordentliche. (Bild 4 und 5) Die Verbeamtung und ein eigener Lehrstuhl wurden ihm jedoch verwehrt. Er kommentierte diesen Sachverhalt sarkastisch, wenn er schrieb, dass die Aussicht auf einen solchen ihm mit der rituellen jüdischen Beschneidung „acht Tage nach der Geburt abgeschnitten worden“[5] sei.

Einen Hinweis auf die Alltäglichkeit des Antisemitismus an der Universität liefert selbst das positive Erstgutachten von Friedrich Zarncke zu Witkowskis Leipziger Habilitationsschrift. Am Ende der Beurteilung bescheinigte dieser, dass er Witkowski „seit Jahren als einen klugen und denkenden, und auch als einen sehr anständigen Menschen“ kenne, „der die abstoßenden Eigenschaften seiner Rasse wenig verräth“.[6] Zarncke wollte mit dieser Einschätzung eigentlich antisemitischen Einwänden gegen den Kandidaten vorbeugen. Die Aufmerksamkeit für Herkunftsfragen wie auch die Präsenz antijüdischer Vorurteile in akademischen Kreisen dokumentierte er damit gleichwohl.[7]

Witkowskis literaturwissenschaftliche Leistungen, seine kulturellen Aktivitäten und weltanschaulichen Positionen lassen sich als Versuche verstehen, diesem Abstammungsdenken mit gesellschaftlichem Engagement und dem Beharren auf bürgerlicher Teilhabe zu begegnen. Er widmete sein Lebenswerk vor allem den kanonischen deutschen Dichtern, beschäftigte sich mit praktischen Fragen der Herausgebertätigkeit, mit der Geschichte des deutschen Dramas sowie der Renaissance- und Barockdichtung. Insgesamt publizierte Witkowski mehr als 700 Schriften, darunter eine vielbeachtete Faust-Edition, aber auch den regionalhistorischen Beitrag Geschichte des Literarischen Lebens in Leipzig.[8]

Seine Goethe-Biografie von 1899 wurde zu einem mehrfach neu aufgelegten Klassiker der Zeit. Zudem war er als Hochschullehrer bei seinen Studenten beliebt. Zu ihnen gehörten der spätere Schriftsteller Erich Kästner sowie die zukünftigen Verleger Anton Kippenberg und Georg Bondi. Witkowskis Tochter Hannie heiratete dessen Neffen Werner Bondi 1933. Öffentliche Bekanntheit erlangte Witkowski als Sachverständiger der Verteidigung im sogenannten Reigen-Prozess. Gegenstand des Verfahrens war das am 23. Dezember 1920 erstmals im Kleinen Schauspielhaus in Berlin aufgeführte gleichnamige Drama von Arthur Schnitzler. Der Inszenierung war ein Verstoß gegen die geltenden Sittenregeln vorgeworfen worden. Der Prozess endete mit einem Freispruch.

Schon deutlich früher engagierte sich Witkowski im kulturellen Leben der Stadt Leipzig. 1899 gründete er den Bibliophilen-Abend und die Gesellschaft der Bibliophilen, deren stellvertretenden Vorsitz er über drei Jahrzehnte hinweg bekleidete. An der Herausgabe des Vereinsorgans Zeitschrift für Bücherfreunde wirkte er maßgeblich mit.[9] Mit seinen für die Zeitschrift verfassten Kritiken beeinflusste er die damaligen literarischen Debatten und Zeitgenossen, wie den späteren Verleger Ernst Rowohlt, der in Leipzig ebenfalls für das Blatt schrieb.[10] Auch in der Gesellschaft für Theatergeschichte, dem Schiller-Verein und der Vereinigung künstlerischer Bühnenvorstände war Wittkowski Mitglied und übernahm zum Teil Leitungsfunktionen.[11] (Bild 6)

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges meldete sich Witkowski als Kriegsfreiwilliger. Aufgrund seines hohen Alters wurde er jedoch ausgemustert. Zur Stärkung der Heimatfront rief Witkowski die Vaterländischen Abende ins Leben, „um die Herzen der Leipziger Bürger zu stärken“, wie er erklärte. Für dieses Engagement erhielt er den Kriegsverdienstorden.[12]

Doch trotz seiner unermüdlichen Auseinandersetzung mit den „Heroen der deutschen Kultur“[13] und ungeachtet seines bürgerschaftlichen Engagements wurde Witkowskis Hoffnung auf Teilhabe am Ende seines Lebens enttäuscht. Zwar verlieh ihm Reichspräsident Paul von Hindenburg am 28. August 1932 noch die Goethe-Medaille, zudem hatte er auf Bitten der Universität auch nach seiner altersgemäßen Emeritierung 1933 weiterhin Lehrtätigkeiten übernommen. (Bild 7) Bereits im April 1933 wurde ihm jedoch in der Folge des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums diese Tätigkeit verwehrt. (Bild 8) 1934 verlor er auch alle seine Ruhestandsbezüge. (Bild 9) Angestoßen durch eine anonyme Denunziation, bezichtigte ihn das Sächsische Ministerium für Volksbildung, „eine Art der Literaturbetrachtung“ zu praktizieren, die „das nationale Empfinden der Hörer erheblich verletzt“ habe. Folglich habe er seine Arbeit am „germanischen“ Seminar der Universität niederzulegen.[14] (Bild 10) Witkowski trafen diese Anschuldigungen schwer. In mehreren Briefen an das Ministerium bat er um Rücknahme der Entscheidung. (Galerie) Daraufhin wurde ihm brieflich nochmals mitgeteilt, dass seine „bisherige geistige Gesamthaltung in wissenschaftlicher und politischer Beziehung […] in entschiedenem Gegensatze zu dem Geiste [stehe], der bei der nationalen Revolution zum Durchbruch gelangt sei“.[15] (Bild 11) Obwohl sich der Dekan der Philosophischen Fakultät, Ludwig Weickmann, für Witkowski verwendete, musste er seine Arbeit niederlegen.[16] (Bild 12) 1937 wurde Witkowskis Wohnung von der Gestapo durchsucht und er selbst für zwei Wochen inhaftiert. Der Vorwurf lautete, an ihn seien Briefe „staatsfeindlichen Inhalts“ adressiert gewesen.[17]

Im Mai 1939 floh Georg Witkowski nach Amsterdam, wo er einige Monate später einem Krebsleiden erlag. Sein Lebensweg steht beispielhaft für die Hoffnung auf Akkulturation und Emanzipation einer ganzen Generation von Gelehrten und Akademikern jüdischer Herkunft, die sich in einer lebenslangen Verehrung der deutschen Sprache und Literatur ausdrückte. Seine Vertreibung aus Leipzig und sein Tod im niederländischen Exil zeugen vom Scheitern dieser Hoffnung.

Ausgewählte Werke von Georg Witkowski
  • Die Anfänge des deutschen Theaters, Leipzig 1898.
  • Goethe. Dichter und Darsteller Bd. 1, Leipzig/Berlin 1899.
  • Das deutsche Drama des 19. Jahrhunderts, Leipzig 1904.
  • Das deutsche Drama in seiner Entwicklung dargestellt. Aus Natur und Geisteswelt Bd. 51, Leipzig 1904.
  • Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig, Leipzig 1909.
  • Miniaturen, Leipzig 1922.
  • Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke. Ein methodologischer Versuch, Leipzig 1924.
  • Von Menschen und Büchern. Erinnerungen 1863–1933, Leipzig 2003.
Herausgeberschaften
  • Goethes Faust, Die Meisterwerke der deutschen Bühne, Tl. 45–52, 2 Bde., Leipzig 1906.
  • Zeitschrift für Bücherfreunde, 1909–1933.
  • Aus Schillers Werkstatt. Seine dramatischen Pläne und Bruchstücke, Leipzig 1910.

[1] Art. Witkowski, Georg, in: Archiv Bibliographia Judaica e. V. (Hg.), Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Bd. 20, Berlin/Boston 2012, 343–350, hier 343.

[2] Art. Georg Witkowski, in: Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte/Historisches Seminar der Universität Leipzig (Hg.), Professorenkatalog der Universität Leipzig, https://research.uni-leipzig.de/catalogus-professorum-lipsiensium/leipzig/Witkowski_179/ (letzter Aufruf: 05.03.2022).

[3] Georg Witkowski, Von Menschen und Büchern. Erinnerungen 1863–1933, Leipzig 2003, 42.

[4] Vgl. Nicolas Berg/Arndt Engelhardt/Anna Lux, Zum Problem des Konzepts „Nationalliteratur“ am Beispiel der Leipziger Germanistik, in: Stephan Wendehorst (Hg.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, 389–423, hier bes. 406‒407.

[5] Georg Witkowski an Max Marterteig im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 8. Juli 1924, zit. n. Berg/Engelhardt/Lux, Zum Problem des Konzepts „Nationalliteratur“ am Beispiel der Leipziger Germanistik, 408.

[6] Universitäts-Archiv Leipzig, PA 1074, Bl. 497.

[7] Berg/Engelhardt/Lux, Zum Problem des Konzepts „Nationalliteratur“ am Beispiel der Leipziger Germanistik, 405–406.

[8] Redaktion Universitätsarchiv Leipzig, Der Germanist Georg Witkowski. Mittler zwischen Wissenschaft und Welt, in: Blog des Universitätsarchivs Leipzig, hhttps://www.universitaetsarchivleipzig.de/bedeutender-gelehrter-und-germanist-an-der-universitaet-georg-witkowski/ (letzter Aufruf: 13.05.2022).

[9] Corinna Kirschstein, Art. Witkowski, Georg, in: Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V (Hg.), Sächsische Biografie, http://www.isgv.de/saebi/ (letzter Aufruf: 22.5.2022).

[10] Nicolas Berg/Arndt Engelhardt/Anna Lux, Zum Problem des Konzepts „Nationalliteratur“ am Beispiel der Leipziger Germanistik, 402.

[11] Kirschstein, Art. Witkowski, Georg.

[12] El Mesmoudi/Gempp-Friedrich/Kouskoutis/Schlootz, Art. Witkowski, in: Renate Heuer (Hg.), Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Berlin 2012, 342.

[13] Bernd Weinkauf, Das ungeschriebene Kapitel, in: Georg Witkowski, Von Menschen und Büchern. Erinnerungen 1863‒1933, Leipzig 2010, 459–479, hier 469.

[14] Ebd.

[15] Ebd.

[16] Ebd.

[17] Redaktion Universitätsarchiv Leipzig, Der Germanist Georg Witkowski. Mittler zwischen Wissenschaft und Welt, http://blog.archiv.uni-leipzig.de/index.php/2018/09/21/der-germanist-georg-witkowski/ (letzter Aufruf: 05.03.2022).

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