Physik
Im Laufe des 19. Jahrhunderts befeuerten wissenschaftliche Entdeckungen den Glauben, die Natur verstehen und beherrschen zu können. Das Fachwissen nahm rasant zu, neue Teildisziplinen entstanden und mit der schnell voranschreitenden Industrialisierung wuchsen neue praktische Anwendungsfelder. Dieser Fortschritt prägte das Weltbild vieler Zeitgenossen und schlug sich in einem enormen Wachstum von Studentenzahlen an Universitäten und Fachhochschulen nieder. Ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurden einige deutsche Hochschulen in den naturwissenschaftlichen Fächern weltweit führend. Damit waren sie attraktiv für Wissenschaftler aus dem In- und Ausland.
Der wissenschaftliche Erfolg zeigte sich nicht zuletzt an der großen Anzahl von Nobelpreisen, die Physiker, Chemiker und Physiologen aus Deutschland verliehen bekamen. Ungefähr ein Drittel der 33 deutschen Preisträger bis 1932 waren jüdischer Herkunft.[1] Nach 1933 gingen viele Nobelpreise an deutsch-jüdische Emigranten, die zumindest einige Zeit an deutschsprachigen Hochschulen ausgebildet wurden. (Bild 1) Dieser hohe Anteil geht im Allgemeinen auf die hohe Wertschätzung akademischer Bildung in der jüdischen Bevölkerung zurück. Dafür, dass Akademiker mit jüdischem Hintergrund in besonderer Weise in den Naturwissenschaften ihre berufliche Zukunft sahen, waren fachspezifische Entwicklungen mitverantwortlich. Zu diesen Besonderheiten gehörte die Entwicklung neuer Teildisziplinen, etwa der Kernphysik. Jüdische Akademiker sahen hier oft eher eine persönliche Chance als in den traditionellen Fachbereichen.
An der Schwelle zum 20. Jahrhundert führten Entdeckungen wie die Röntgenstrahlung und Radioaktivität zu neuen Anschauungen über die kleinsten Einheiten der Materie und stellten damit die klassische Physik in Frage. Auch Impulse aus der mathematischen Physik rüttelten an der Auffassung, die physikalischen Grundgesetze seien weitgehend erkannt und bewiesen. In Leipzig hatte sich am Ende des 19. Jahrhunderts die Experimentalphysik etabliert. Mit der 1894 eingerichteten ersten Professur für Theoretische Physik bekam die mathematische Physik einen größeren Stellenwert. Zehn Jahre später wurde der Neubau des Physikalischen Instituts eingeweiht. (Bild 2) Mit seinen 2.000 Quadratmetern Laborfläche, Mechanikerwerkstätten, großen und kleinen Hörsälen sowie technischen Ausrüstungen war es die damals in Deutschland größte und auch am besten ausgestattete Einrichtung ihrer Art.[2]
In den 1920er Jahren differenzierte sich die Physik auch an der Universität Leipzig weiter aus. So entstanden Abteilungen für Radio-Physik und Angewandte Physik. Aus letzterer entsprangen wenig später eigenständige Abteilungen für Angewandte Mechanik und Thermodynamik sowie für Angewandte Elektrizitätslehre. Als erster Direktor der Abteilung für Radiophysik wirkte Erich Marx (1874–1956), der vor allem als Herausgeber des sechsbändigen Handbuches der Radiologie, das sowohl in Englisch als auch auf Deutsch erschien, bekannt wurde. (Bild 3) Marx diskutierte in einigen seiner Arbeiten bereits die neuesten Theorien von Max Planck und Albert Einstein, blieb aber auch noch klassisch-theoretischen Beschreibungen verhaftet.[3] 1933 wurde er in Zwangsruhestand versetzt. Nachdem Marx noch bis 1940 an seinem privat gegründeten radiophysikalischen Institut für die Industrie gearbeitet hatte, emigrierte er in die Vereinigten Staaten. (Bild 4)
Die moderne Physik hielt in Leipzig 1926 mit der Professur Gregor Wentzels Einzug. Als Schüler Arnold Sommerfelds hatte er auf mathematisch-theoretischem Gebiet grundlegende Beiträge zur Quanten- und Relativitätstheorie geleistet. Zu einem wirklichen Zentrum der neuen Ideen wurde die Leipziger Physik allerdings erst mit der Berufung eines weiteren Sommerfeld-Schülers: Im Alter von 25 Jahren wurde 1927 Werner Heisenberg Professor in Leipzig. Heisenberg galt bereits damals als Star der neuen Physik, nachdem er 1925 die Grundlagen der Quantenmechanik formuliert und zwei Jahre später die Unschärferelation entdeckt hatte. 1932 erhielt er dafür den Nobelpreis für Physik. In Leipzig wurde er zum Mittelpunkt einer Gruppe junger Akademiker, die sich allesamt von Anwendungsfragen des neuen physikalischen Paradigmas fasziniert zeigten.
Viele dieser Forscher, etwa Heisenbergs erster Assistent Guido Beck (1903–1988), seine Doktoranden Felix Bloch (1905–1983), Rudolf Peierls (1907–1995), Edward Teller (1908–2003) und Arnold Siegert (1911–1995), verband ihre jüdische Herkunft. Diese spielte allerdings keine vordergründige Rolle, ja Heisenberg zeigte sich regelrecht überrascht, als er später im Zuge der nationalsozialistischen Zwangsmaßnahmen gegen einige seiner Schüler davon erfuhr.[4] (Bild 5)
Für Heisenbergs Schüler versprach die Quantenmechanik bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse. Hinzu kam der Reiz, Teil einer jungen Forschergemeinschaft zu sein, die von internationalem Austausch profitierte. Zentren der neuen Quantenmechanik waren neben Leipzig die Universitäten in Göttingen mit Max Born, in Kopenhagen mit Niels Bohr und in Zürich mit den Professuren von Wolfgang Pauli und Erwin Schrödinger.[5] Zwischen ihnen wurde ein reger geistiger Austausch gepflegt, der akademische Nachwuchs wechselte nicht selten von einem dieser Institute zu einem anderen und die Professoren empfahlen ihre Schüler für die Stellenangebote der Kollegen.
Der in Reichenberg (Liberec) geborene Guido Beck ging, nachdem er in Wien studiert, promoviert und seit 1928 vier Jahre für Heisenberg in Leipzig gearbeitet hatte, 1932 als Rockefeller Stipendiat nach Kopenhagen zu Niels Bohr. (Bild 6) Nach vielen weiteren beruflichen Stationen, darunter in den Vereinigten Staaten und in der Sowjetunion, musste er 1938 Deutschland endgültig verlassen und emigrierte über Dänemark, Frankreich und Portugal nach Argentinien.
Als ein Student von Wolfgang Pauli aus Zürich kam Felix Bloch nach Leipzig. Bei Heisenberg setzte er sein Studium fort, promovierte 1928 mit der Arbeit Über die Quantenmechanik der Elektronen in Kristallgittern und wechselte dann als Assistent zurück zu Pauli an die Eidgenössische Technische Hochschule. Von 1930 bis 1933 war Bloch wieder Oberassistent von Heisenberg in Leipzig. In diese Zeit fiel auch seine Habilitation. (Bild 7) Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten kehrte Bloch, der Schweizer Staatsbürger war, von einem Studienaufenthalt in Rom nicht mehr nach Deutschland zurück. In einem Brief an die Fakultät erklärte er im August 1933, dass er angesichts der politischen Verhältnisse eine Stellung in Leipzig, aber auch an einer anderen deutschen Universität ablehne. (Galerie 1) Bloch ging in die Vereinigten Staaten, wo er unter anderem als Professor an der Universität Stanford arbeitete. Für seine Entdeckung der magnetischen Kernresonanz erhielt er 1952 den Nobelpreis, 1954 wurde er erster Generaldirektor des Kernforschungszentrums CERN bei Genf.[6]
Während des Nationalsozialismus wurden die Internationalität seiner Schüler und die Orientierung an den Grundlagen der modernen Physik zu Vorwürfen gegen Heisenberg. In einem Artikel für das SS-Journal Das Schwarze Korps machte Johannes Stark, Nobelpreisträger und amtierender Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, Heisenberg die Beschäftigung jüdischer Assistenten zum Vorwurf; zudem würden seine Lehrveranstaltungen überwiegend von Juden und Ausländern besucht.[7] Der Grund dafür sei Heisenbergs Festhalten an Einsteins Relativitätstheorie und damit an einem „jüdischen Geist“ in der Physik. Im Gegensatz zur „deutschen Physik“ sei die „jüdische“ von einer wirklichkeitsfernen Theorielastigkeit geprägt, die dem gesunden Menschenverstand und einer geduldigen Naturbeobachtung widerspräche. Stark radikalisierte damit eine weit verbreitete Abwehr gegen die moderne Physik. Insbesondere eine ältere, schon im Kaiserreich beruflich erfolgreiche Generation von Experimentalphysikern reagierte auf die Innovationen der Zeit mit einem umfassenden Kulturpessimismus. Auch Starks Kollege, der ebenfalls mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Phillip Lenard, brandmarkte die moderne Physik als abstrakt und formalistisch und verband diese Beschreibungskategorien mit einem vermeintlich jüdischen Wesenskern. Die Aufmerksamkeit, die der modernen Physik dennoch gelte, verdanke sich nur vordergründiger Sensationshascherei. Hingegen baue tatsächlicher Erkenntnisgewinn auf einem „arischen“ Forscherdrang auf, so Lenard sinngemäß in der Einleitung zu seinem vierbändigen Lehrbuch Deutsche Physik.
Wissenschaftlich blieb die Deutsche Physik bedeutungslos, an Universitäten und Forschungseinrichtungen konnte sie allerdings viele Anhänger gewinnen. Stark und Lenard hatten bereits in den 1920er Jahren ihrer Bewunderung Hitlers Ausdruck gegeben.[8] Mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten bekamen sie schließlich den institutionellen Einfluss, ihren Vorstellungen Nachdruck zu verleihen. So verhinderte die Verleumdung Heisenbergs als „Statthalter des Judentums im deutschen Geistesleben“ dessen Berufung auf den Lehrstuhl für Physik an der Münchner Universität als Nachfolger von Arnold Sommerfeld.
Vollständig durchsetzen konnte sich das ideologische Paradigma einer „arischen“ Naturwissenschaft aber selbst im nationalsozialistischen Deutschland nicht. Heisenberg hatte sich mit einer Eingabe beim Reichsführer SS, Heinrich Himmler, über die Angriffe gegen ihn beschwert und bekam, wenn auch erst nach einer etwa einjährigen Prüfung, den Schutz der Reichsregierung versichert. Dabei halfen wohl auch Kontakte seiner Eltern zur Familie Himmlers.[9] Noch entscheidender war: Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wuchs das Interesse am Anwendungspotential von Quantenphysik und Relativitätstheorie. Heisenberg wurde 1942 zum Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik in Berlin-Dahlem ernannt und arbeitete in dieser Funktion federführend am Bau einer deutschen Atombombe mit. Allerdings schritten die entsprechenden Aktivitäten nicht weit fort und sollen von Heisenberg auch nicht besonders vorangetrieben worden sein.[10]
Einige seiner Schüler bestätigten später, seine Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten sei nur oberflächlicher Natur gewesen, im Kern aber habe er sich als Wissenschaftler und Mensch während des Nationalsozialismus korrekt verhalten.[11]
Im Gegensatz zu Heisenberg, der in Deutschland blieb, stellten viele seiner ins Exil gezwungenen Schüler ihre intellektuellen Fähigkeiten in den Dienst der Anti-Hitler-Koalition. So überzeugten die drei in Ungarn geborenen Kernphysiker Edward Teller (Bild 8), Leó Szilárd und Eugene Wigner im Oktober 1939 Albert Einstein davon, den amerikanischen Präsidenten Theodor Roosevelt in einem Brief auf das militärische Potential der nuklearen Kernspaltung und die Gefahr einer deutschen Atombombe aufmerksam zu machen.[12] Edward Teller hatte in Leipzig bei Heisenberg promoviert, seit 1930 als dessen Assistent gearbeitet und war dann über Dänemark und Großbritannien in die Vereinigten Staaten emigriert. (Bild 9)
Im März 1940 verfassten zwei nach England exilierte Physiker eine Denkschrift über die Möglichkeit einer Atomwaffe. Einer von ihnen war Rudolf Peierls, der in Leipzig bei Heisenberg promoviert hatte, der andere Otto Frisch, ein aus Wien stammender Kernphysiker. (Bild 10) Die beiden Forscher beschrieben die Auswirkungen der Atombombe und warnten mit Verweis auf den Stand der Kernphysik in Deutschland vor der Gefahr, dass die Nationalsozialisten bereits daran bauten. Ihr streng geheimer Bericht wurde an das Militär weitergeleitet und beeinflusste die alliierten Anstrengungen, vor den Achsenmächten in den Besitz einer Atombombe zu gelangen.
Ab 1942 bündelten die Vereinigten Staaten ihre Aktivitäten zur atomaren Bewaffnung im sogenannten Manhattan-Projekt. Edward Teller gehörte dabei zum Aufbaustab, Victor Weißkopf, für kurze Zeit 1931 ebenfalls ein Schüler Heisenbergs, leitete von 1943 bis 1946 eine Abteilung des Projekts in Los Alamos.[13] Am 16. Juli 1945 waren beide Augenzeugen des ersten Atombombenversuchs. Auch Felix Bloch und Rudolf Peierls waren am Bau der Atombombe beteiligt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sprachen sie sich, wie auch Weißkopf und viele andere Atomwissenschaftler, gegen die Weiterentwicklung atomarer Waffen und für die rein friedliche Nutzung der Kernenergie aus. Teller allerdings hatte in entscheidendem Maße auch Anteil am Bau einer Wasserstoffbombe und verteidigte später die atomare Abschreckungsstrategie der Vereinigten Staaten im Kalten Krieg.[14]
Spätestens die militärische Entwicklung der Atomtechnologie widerlegte die Voraussagen der „deutschen Physik“, nach der es sich bei der modernen Kernphysik nur um theoretische Wichtigtuerei ohne tatsächlichen Erkenntnisgewinn handele. Auch wenn sich im Physikalischen Institut in Leipzig diese ideologische Auffassung aufgrund der Rolle Heisenbergs ohnehin nie hatte durchsetzen können, endete hier mit der Vertreibung der jüdischen Naturwissenschaftler eine außergewöhnlich innovative Episode der Fachentwicklung, an die später nicht mehr in gleichem Maße angeknüpft werden konnte.
Chemie
Das Fach Chemie entstand im Laufe des 18. Jahrhunderts aus Fragestellungen der Medizin, der Farbstoffherstellung und des Bergbaus. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Deutsche Reich zum Vorreiter sowohl in der theoretischen Entwicklung als auch bei der Anwendung chemischer Methoden in der Industrie.[15] In Leipzig eröffnete 1868 das größte chemische Laboratorium an einer deutschen Universität, das auch international zu den modernsten Einrichtungen seiner Zeit gehörte. (Bild 11)
Als junge wissenschaftliche Disziplin eröffnete die Chemie akademische und berufliche Möglichkeiten, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt jüdische Akademiker anzogen. Etwa 21 Prozent der akademischen Chemiker im deutschsprachigen Raum waren jüdischer Herkunft.[16] Im Vergleich dazu lag der jüdische Anteil in der Biologie, einem Fach ohne vergleichbare Berufsperspektiven, nur bei acht Prozent. Jüdische Akademiker mit Interesse für Biologie wichen auf die Fächer Chemie oder Medizin aus und nahmen dieses Studium als Ausgangspunkt für biologische oder biochemische Forschung. Vor allem in praxisbezogenen Bereichen, an privaten Forschungseinrichtungen und an den neuen Technischen Hochschulen etablierte sich eine neue Interdisziplinarität.[17] In der Elektrochemie und bei der Herstellung synthetischer Farbstoffe sowie der Arzneimittelproduktion gelangen jüdischen Chemikern bis heute nachwirkende Erfindungen. So entwickelten Felix Hoffmann und Arthur Eichengrün bei Bayer in Leverkusen das Medikament Aspirin.
Der Forscher Paul Ehrlich (1854–1915) begründete Anfang des 20. Jahrhunderts die Chemotherapie und entwickelte ein Medikament zur Bekämpfung der Syphilis. (Bild 12) Ehrlich hatte 1878 an der Universität Leipzig bei Julius Cohnheim über die Verwendung von Anilinfarbstoffen zur Gewebefärbung und Bakteriendiagnostik promoviert.[18] (Bild 13) Bereits während seines Medizinstudiums war er durch den ebenfalls in Leipzig wirkenden Pathologen Carl Weigert, seinen Vetter, zu Experimenten mit Farbstoffen angeregt worden. Seine Kenntnisse in der Organischen Chemie hatte er sich im Eigenstudium angeeignet und hatte dann als einer der Ersten chemische Konzepte in der Medizin erfolgreich angewendet.[19]
Nach seiner Leipziger Zeit arbeitete er als Arzt an der Berliner Charité. Allerdings forschte er auch weiterhin an der Schnittstelle von Chemie, Biologie und Medizin und befand sich lieber im Labor als am Krankenhausbett. Dem innovativen Charakter seiner Forschungen entsprach damals noch keine universitäre Struktur. Als er 1890 als Anerkennung seiner Leistungen zum Extraordinarius berufen wurde, zog er die Tätigkeit in seinem privat eingerichteten Forschungslabor der Lehre an der Hochschule vor. Der mit ihm befreundete Robert Koch erkannte den genialen Forschergeist Ehrlichs und holte ihn an sein Berliner Institut für Infektionskrankheiten. Hier wurden Methoden zur Erkennung bakterieller Krankheitserreger und neue Heilmittel erforscht.
Gemeinsam mit Emil Behring entwickelte Ehrlich ein Serum gegen Diphterie, eine der bis dahin häufigsten Ursachen der hohen Kindersterblichkeit. Darauf aufbauend formulierte er eine Theorie der Antikörperbildung, die zur Grundlage für das Verständnis des menschlichen Immunsystems wurde. 1908 erhielt Ehrlich den Nobelpreis für Medizin. Als Direktor des Königlichen Instituts für Experimentelle Therapie wechselte er 1899 nach Frankfurt am Main, wo ihm auch mit Hilfe privater Spenden die Herstellung des ersten synthetischen Antibiotikums gelang.
Ehrlich konvertierte nie und setzte sich zudem für eine jüdisch-nationale Heimstätte ein. 1913 besuchte ihn Chaim Weizmann, damals renommierter Chemiker in England und später Präsident des Zionistischen Weltkongresses, in seinem Frankfurter Institut und gewann ihn für die Unterstützung einer jüdischen Universitätsgründung in Jerusalem.[20] Gleichwohl dachte Ehrlich wie viele seiner jüdischen Zeitgenossen deutsch-national. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges gehörte er zu den prominenten Unterzeichnern des Aufrufs An die Kulturwelt, mit dem sich deutsche Wissenschaftler und Künstler hinter die deutsche Kriegszielpolitik stellten und diese vor den Augen der Weltöffentlichkeit zu legitimieren suchten. Ehrlich starb 1915 und erlebte so das Anwachsen des Antisemitismus im Zuge der ausbleibenden Kriegserfolge nicht mehr. Sowohl seine nationale politische Verortung als auch sein Berufsweg, auf dem er wissenschaftliches Neuland jenseits etablierter akademischer Sphären betrat, sind typisch für jüdische Lebenswege im deutschsprachigen Raum um die Jahrhundertwende.
Natürlich gelangen nur den wenigsten Wissenschaftlern in gleichem Maße wie Ehrlich herausragende Erfindungen und Entdeckungen. Doch zeigte die Orientierung auf disziplinübergreifende und anwendungsorientierte Bereiche ein wiederkehrendes Muster. In dieses passt auch der Lebensweg von Joachim (Chaim) Buslik (1874–1947). Buslik, Sohn eines Rauchwarenhändlers aus Klewan im russischen Zarenreich, studierte in den Sommersemestern 1899 und 1900 Chemie in Leipzig. (Bild 14 und 15) Nach seinem Abschluss in Pharmazie an der Universität in Kiew kehrte er wenige Jahre später erneut nach Leipzig zurück und promovierte dort 1908 bei Ernst-Otto Beckmann, dem damaligen Direktor des Labors für angewandte Chemie. Im selben Jahr kaufte Buslik, dessen Eltern mittlerweile ebenfalls nach Leipzig, das mitteleuropäische Zentrum der Pelzverarbeitung, übergesiedelt waren, ein chemisches Labor in der Leipziger Keilstraße und erweiterte dieses um eine Röntgenabteilung. Das Institut gehörte zu den ersten Einrichtungen der Röntgendiagnostik in Sachsen. Neben Kursangeboten für Ärzte, Chemiker und Apotheker in Bakteriologie, Serologie und klinischer Chemie wurden hier zudem Labor- und Röntgenassistenten ausgebildet. 1927 erkannte das Sächsische Wirtschaftsministerium die Einrichtung als Höheres Lehrinstitut an. Die Absolventen verließen das Institut nach einem erfolgreichen Abschluss mit einem Staatsexamen. Im April 1933 verlor die gewerbliche Lehranstalt ihre staatliche Anerkennung. Einen Monat später floh Joachim Buslik in die Schweiz.[21]
In der innovativen Entwicklung der Chemie nahm die sächsische Landesuniversität mit der Einrichtung des ersten deutschen Lehrstuhls für physikalische Chemie 1871 und der 1887 erfolgten Berufung des späteren Nobelpreisträgers Wilhelm Ostwald auf diese Stelle eine Voreiterrolle ein.[22] Zur Professur von Ostwald gehörten drei etatmäßige Assistenzstellen, die mit der Leitung separater Abteilungen (Physikalisch-Chemische Abteilung, Analytische Abteilung, Pharmazeutische Abteilung) beauftragt waren. Von 1895 bis 1897 wurde die Physikalisch-Chemische Abteilung von Georg Bredig (1868–1944) geleitet. Bredig stammte aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie im niederschlesischen Glogau, wechselte aber 1900 zum evangelischen Glauben.[23] Während seines Studiums der Physik und Chemie kam er mit der physikalischen Chemie in Kontakt und zeigte sich von dem neuen Fach begeistert. Daraufhin zog es ihn zu Wilhelm Ostwald nach Leipzig, bei dem er 1893 promovierte. Dem Rat seiner Eltern folgend studierte er auch eine Zeit lang Medizin, was als sichere Berufsorientierung erschien. (Bild 16) Im Jahr seiner Konversion erhielt er in Leipzig die Lehrbefugnis (Galerie 2), ein Jahr später wurde er zum ersten Professor für physikalische Chemie an der Universität Heidelberg berufen und wechselte von dort 1911 als ordentlicher Professor an die Technische Hochschule in Karlsruhe. Der Begründer des chemischen Teilgebiets der Katalyse wurde 1933 emeritiert, nachdem er zuvor aufgrund seiner jüdischen Herkunft beim Ministerium für Kultus denunziert worden war. Während der Novemberpogrome 1938 gehörte Bredig zu hunderten verhafteten Juden in Karlsruhe und war Schikanen der Nationalsozialisten ausgesetzt. Dies veranlasste ihn zur Flucht, die ihn über die Niederlande in die Vereinigten Staaten führte. Bis zu seinem Tod in New York 1944 lebte er in Angst um Familienangehörige und Freunde, die weiter in Europa festsaßen.[24]
Ein anderer Schüler Ostwalds war Carl Drucker (1876–1959), Sohn des Justizrates Martin Drucker sen., seinerzeit der zweite in Sachsen zugelassene jüdische Anwalt, der wenig später konvertierte.[25] Carl Drucker wuchs in Leipzig auf, wo er auch studierte. (Bild 17) Promotion und Habilitation erfolgten bei Ostwald, für den er ab 1902 als Assistent arbeitete. 1911 wurde er in seiner Heimatstadt zum außerordentlichen Professor berufen. (Galerie 3) Nach seinem Militärdienst im Ersten Weltkrieg kehrte er nach Leipzig zurück und wirkte unter anderem als einer der Herausgeber der Zeitschrift für physikalische Chemie. Gemeinsam mit seinem Doktoranden Erich Simon Proskauer (1903–1991) (Bild 18) veröffentlichte er 1932/33 das Physikalisch-chemische Taschenbuch in zwei Bänden. Drucker verlor 1933 die Lehrbefugnis und sah sich zur Emigration nach Schweden gezwungen. Proskauer flüchtete 1937 aus Deutschland in die Vereinigten Staaten. Hier gründete er den Wissenschaftsverlag Interscience, wobei ihm seine Erfahrungen als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Akademischen Verlagsanstalt Leipzig zugutekamen. Der Verlag wurde später vom renommierten Wissenschaftsverlag John Wiley & Sons übernommen. Proskauer stand diesem zuletzt als Direktor vor.[26]
Auch der in Warschau in eine jüdisch-polnische Familie geborene Kazimierz Fajans (1887–1975) studierte noch bei Ostwald, (Bild 19) promovierte und habilitierte später bei Georg Bredig in Heidelberg und Karlsruhe. Ab 1917 wirkte er als außerordentlicher Professor in München und baute dort ab 1925 als Ordinarius das Institut für Physikalische Chemie auf.[27] (Bild 20) Nach seiner Zwangsversetzung in den Ruhestand 1935 emigrierte er in die Vereinigten Staaten und arbeitete bis 1957 als Professor an der Universität Ann Arbor, Michigan.[28] Fajans war einer von vier jüdischen Ordinarien die 1932 an der Spitze der 15 Institute für Physikalische Chemie in Deutschland standen.[29]
Etwa 32 Prozent der deutschen Wissenschaftler in der Physikalische Chemie und 29 Prozent in der Biochemie waren jüdischer Herkunft. In den klassischen Bereichen der organischen und anorganischer Chemie lag der Anteil bei 17 und 14 Prozent.[30]
Die Attraktivität eines Chemie-Studiums reichte bis in die Jahre der Weimarer Republik. So begann Esther Bamberger (geb. Dym, 1906–1963) Mitte der 1920er Jahre ihr Chemiestudium in Leipzig, schloss 1932 ihre Promotion ab, bekam aber erst nach dem Druck ihrer Arbeit 1935 ihre Promotionsurkunde. Diese wurde ihr nur aufgrund der Unterstützung des Geophysikers Ludwig Weickmann und des Chemikers Burkhardt Helferich nach Jerusalem nachgesendet, wohin Bamberger geflüchtet war. Später arbeitete sie an der Bibliothek der Hebräischen Universität als Leiterin der Abteilung für Physik und Chemie.[31]
Der Doktorvater Bambergers war Arnold Weissberger (1898–1984), damals Privatdozent und Experte im klassischen Bereich der organischen Chemie, der bereits zwei Jahre vor seiner Habilitation 1928 das Lehrbuch Grundriß der organischen Chemie veröffentlicht hatte.[32] Der in Chemnitz als Sohn eines Fabrikdirektors geborene Weissberger hatte, nachdem er vom Kriegsdienst zurückgekehrt war, in Leipzig mit dem Jurastudium begonnen, wechselte dann aber zur Chemie. (Bild 21 und 22) Noch am 6. Februar 1933 schlug eine Kommission der Philosophischen Fakultät seine Berufung zum außerordentlichen Professor vor, was allerdings an den inzwischen eingetretenen politischen Verhältnissen scheiterte. Nach der Entlassung ging Weissberger über Oxford in die Vereinigten Staaten. Hier arbeitete er nicht nur mit Erich Proskauer in dessen Wissenschaftsverlag zusammen, sondern bis 1975 auch in leitenden Funktionen bei der Eastman Kodak Co. in Rochester. Die Firma zählte zu den weltweit führenden Ausrüstern der sich rasch verbreitenden Freizeitfotografie.
Die Mehrzahl der Leipziger Naturwissenschaftler und Mathematiker unternahm nichts, als ihre jüdischen Kollegen entlassen wurden. Fälle von Zivilcourage waren selten, in der Öffentlichkeit geäußerte Kritik die absolute Ausnahme. Für viele, insbesondere ältere jüdische Wissenschaftler brach mit den Maßnahmen der Nationalsozialisten eine Welt zusammen. Für sie bedeuten Lehre und Forschung an einer deutschen Universität, sich im Dienste von Fortschritt und Humanität zu betätigen. Doch auch für die Universität war die Konsequenz der nationalsozialistischen Politik einschneidend. Denn mit der Vertreibung ihrer jüdischen Wissenschaftler endete nicht nur ihre teilweise wissenschaftliche Weltgeltung, sondern mehr noch ihre Teilhabe an einer modernen akademischen Kultur.
[1] Ute Deichmann, Erfolg und Fachdisziplin. Juden in Chemie und Biomedizin in Deutschland bis 1933, in: Dan Diner (Hg.), Jahrbuch des Simon Dubnow Instituts, Bd. 3, Göttingen 2004, 267–292, hier 271.
[2] Dieter Michel/Volker Riede, Physik, in: Ulrich von Hehl u.a. (Hg.), Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 4, Leipzig 2009, 1228–1808, hier 1236; vgl. auch Helmut Reichenberg/Gerald Wiemers: ,Einstein als Eckstein‘. Von der klassischen zur modernen Physik an der Universität Leipzig, in Stephan Wendehorst (Hg.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, 377–388, hier bes. 377–378.
[3] Helmut Rechenberg, Werner Heisenberg. Die Sprache der Atome. Leben und Wirken. Eine wissenschaftliche Biografie, Bd. 1, Berlin/Heidelberg 2010, 694.
[4] Konrad Lindner, Heisenbergs jüdische Meisterschüler. Zur Physik in der Weimarer Republik, https://www.leipzig-lese.de/index.php?article_id=679 (letzer Aufruf: 12.02.2020).
[5] Gerald Wiemers, Verfolgung und Vertreibung 1933–1935. Die Mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung der Philosophischen Fakultät und ihre jüdischen Wissenschaftler, in: Stephan Wendehorst (Hg.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, 563–590, hier 563.
[6] Um Felix Blochs wissenschaftliches Wirken in Leipzig und darüber hinaus zu würdigen, wurde 2018 die zweijährliche Felix-Bloch-Lecture durch das Felix-Bloch-Institut für Körperphysik Leipzig ins Leben gerufen; vgl. https://www.physgeo.uni-leipzig.de/fbi/profil-1/felix-bloch-lecture-leipzig (letzter Aufruf: 25.01.2022).
[7] Weiße Juden in der Wissenschaft, in: Das Schwarze Korps, 15. Juli 1937, 6, hier zit. n. Universitätsarchiv Leipzig, PA560 Werner Heisenberg, Bl. 31.
[8] Vgl. Reinald Schröder, Welteislehre, Ahnenerbe und ,weiße Juden‘. Kuriosa aus der Wissenschaftspolitik im ,Dritten Reich‘, in: Die Zeit 17 (1991), https://www.zeit.de/1991/17/welteislehre-ahnenerbe-und-weisse-juden (letzter Aufruf: 13.02.2022).
[9] Ebd.
[10] Ernst Peter Fischer, Werner Heisenberg. Ein Wanderer zwischen zwei Welten, Heidelberg 2015, hier bes. 270.
[11] Christian Kleint/Gerald Wiemers (Hgg.), Werner Heisenberg im Spiegel seiner Leipziger Schüler und Kollegen, Leipzig 2006, hier bes. 151–152.
[12] Kati Marton, Die Flucht der Genies. Neun ungarische Juden verändern die Welt, Frankfurt am Main 2010, 9.
[13] Wiemers, Verfolgung und Vertreibung 1933–1935, 588.
[14] Marton, Die Flucht der Genies, 260–264.
[15] Anthony Travis, Art. Chemie, in: Dan Diner (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2011, 489–502, hier 499.
[16] Deichmann, Erfolg und Fachdisziplin, 273.
[17] Vgl. Travis, Art. Chemie, 499.
[18] Fritz Stern, Paul Ehrlich. Der Forscher in seiner Zeit, in: Angewandte Chemie 116 (2004), 4352–4359.
[19] Deichmann, Erfolg und Fachdisziplin, 273.
[20] Stern, Paul Ehrlich, 4358.
[21] Barbara Kowalzik, Das jüdische Schulwerk in Leipzig 1912–1933, Köln u.a. 2002, 221–223.
[22] Lothar Beyer/Helmut Papp, Fakultät für Chemie und Mineralogie, in: Ulrich von Hehl u.a. (Hg.), Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd.4, Leipzig 2009, 1335–1408, hier 1342–1343.
[23] Alexander Kipnis, Georg Bredig, in: Badische Biographien. Neue Folge, Bd. 6, Stuttgart 2011, 44–47.
[24] Ebd.
[25] Hubert Lang, Zwischen allen Stühlen. Juristen jüdischer Herkunft in Leipzig (1848–1953), Kaufering 2014, 309–310.
[26] Wiemers, Verfolgung und Vertreibung 1933–1935, 585–586.
[27] Aleksander Hertz, The Jews in Polish Culture, Evanston, Il. 1988, 236.
[28] Wiemers, Verfolgung und Vertreibung 1933–1935, 579.
[29] Deichmann, Erfolg und Fachdisziplin, 278.
[30] Ebd., 276–277.
[31] Wiemers, Verfolgung und Vertreibung 1933–1935, 577.
[32] Ebd., 588.