Mathematik

Titelbild Mathematik, Leon Lichtenstein │UAL
Leon Lichtenstein während einer Vorlesung │ UAL

Früher als in anderen wissenschaftlichen Disziplinen konnten sich jüdische Mathematiker an der Spitze des Fachs etablieren. Die besonders stark ausgeprägte Orientierung an rationalen Kriterien in der Mathematik sowie ihr über nationale und religiöse Grenzen hinausgehender universeller Anspruch ließen antijüdische Vorbehalte weniger stark zur Geltung kommen.[1] (Diagramm 9) Bereits 1859 wurde mit Moritz Abraham Stern in Göttingen der erste nicht konvertierte Jude an einer deutschen Universität zum Ordinarius berufen. Eine wirklich breitere Hinwendung von Juden setzte allerdings erst nach der rechtlichen Gleichstellung ein. Jetzt gelang es jüdischen Mathematikern häufiger, Professuren zu erhalten. In der Weimarer Republik waren schließlich 28 von 94 ordentlichen Mathematik-Professuren mit jüdischen Wissenschaftlern besetzt.[2]

Die Universität Leipzig berief 1901 Felix Hausdorff (1868–1942), 1905 Heinrich Liebmann (1874–1939), 1921 Leon Lichtenstein (1878–1933) und 1923 Friedrich Levi (1888-1966) auf Professuren. Doch blieb dieser Aufstieg keineswegs frei von Vorurteilen, selbst bei seinen akademischen Förderern. Als sich Felix Hausdorff, (Bild 1) der in Leipzig eine Stelle als außerplanmäßiger Professor innehatte, um eine besser gestellte Professur in Göttingen bemühte, schrieb ihm sein Doktorvater Heinrich Bruns, Ordinarius für Astronomie und Direktor der Sternwarte in Leipzig, ein äußerst wohlwollendes Gutachten. Darin hieß es unter anderem, dass man in Leipzig dem Privatdozenten Hausdorff die Vorlesungen zur Versicherungsmathematik übertragen hatte, weil ihm dafür „unzweifelhaft die specifischen Anlagen seiner Rasse (ungetauft) zustatten“ gekommen seien.[3]

Tatsächlich waren die Interessengebiete jüdischer Mathematiker auf alle Teilbereiche des Fachs verteilt. Sie betrafen also nicht nur abstrakte oder auf andere Weise vermeintlich jüdischem Denken nahestehende Subdisziplinen und Methoden, sondern ebenso angewandte Mathematik, Geometrie und Algebra. Felix Hausdorff etwa promovierte 1891 (Bild 2) und habilitierte sich 1895 in Leipzig mit astronomischen Arbeiten über die Lichtstrahlung. Ab 1904 wandte er sich verstärkt der Mengenlehre zu. Zuvor hatte er unter dem Pseudonym Dr. Paul Mongré literarische sowie erkenntnistheoretische Werke veröffentlicht. Doch weder seine vielseitige Prägung noch sein Selbstverständnis als Agnostiker ersparten ihm die Erfahrung antisemitischer Ablehnung.[4] Im Antragsprozess der Universität Leipzig zur Ernennung Hausdorffs zum Extraordinarius berichtete der Dekan an das zuständige Ministerium in Dresden, dass der Fakultätsbeschluss nicht einstimmig ausgefallen sei, sondern sieben von 22 Mitgliedern des Fakultätsrates aufgrund des mosaischen Glaubens des Kandidaten gegen ihn gestimmt hätten.[5] (Galerie 1)

An der Universität Leipzig fühlte sich Hausdorff nicht wirklich angenommen. So berichtete er später, nachdem er in Greifswald und Bonn zum Ordinarius berufen worden war, über die dort anzutreffende Kollegialität. Diese habe im deutlichen Gegensatz zu den Gepflogenheiten an der sächsischen Landesuniversität gestanden, wo Ordinarien ihren formal niedriger stehenden Kollegen den Statusunterschied spüren ließen.

Auch der vier Jahre nach Hausdorff zum außerordentlichen Professor berufene Heinrich Liebmann (Bild 3) verließ bereits wenige Jahre später die Universität Leipzig. Liebmann hatte seit 1882 in Leipzig Mathematik studiert, später in Jena promoviert. 1899 erhielt der Spezialist für Geometrie in Leipzig die Lehrbefugnis (Galerie 2), 1909 folgte die Berufung zum Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Nach seiner Leipziger Zeit folgten Professuren in München und Heidelberg. Liebmann wurde nicht nur durch seine eigenen geometrischen Grundlagenwerke bekannt, sondern auch durch seine Übersetzungen mathematischer Werke russischer und italienischer Autoren. Trotz seines evangelischen Bekenntnisses wurde ihm im nationalsozialistischen Deutschland seine jüdische Herkunft zur Last gelegt. Als altgedienter Staatsbeamter durfte Liebmann zwar zunächst weiter in Heidelberg lehren, allerdings richtete sich dort schon bald eine von der Fachschaft organisierte antisemitische Hetzkampagne gegen ihn, die in einem Vorlesungsboykott gipfelte. An Tuberkulose erkrankt reichte Liebmann seine vorzeitige Pensionierung ein. Er starb 1939 an den Folgen der Krankheit.[6]

Zu den erfolgsreichsten Leipziger Mathematikern gehörte Leon Lichtenstein (1878–1933). (Bild 4) Als dieser 1922 in der Messestadt zum ordentlichen Professor berufen wurde, hatte er einen beeindruckenden Bildungsweg zurückgelegt: In seiner Geburtsstadt Warschau absolvierte er nach der Realschule eine Druckerlehre.[7] Da er im russländischen Reich als Jude nicht zum Studium zugelassen wurde, ging er nach Berlin und schrieb sich 1894 an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg für Maschinenbau und Elektrotechnik ein. Dazu begann er an der Universität Berlin mit einem Studium der Mathematik, legte aber auch noch die Prüfungen zum deutschen Abitur ab. Kurz nach der Jahrhundertwende arbeitete er für Siemens als Elektroingenieur. 1914 gab er seine russische Staatsbürgerschaft auf und wurde deutscher Staatsbürger. Während des Ersten Weltkrieges arbeite er für das Heeresprüfungsamt und beteiligte sich an aerodynamischen Berechnungen in der Flugzeugkonstruktion. Nach dem Krieg setzte er dann seine wissenschaftliche Laufbahn fort. 1918 war er Mitbegründer der Mathematischen Zeitschrift, die er 20 Jahre lang betreute. Von 1919 bis 1927 war er Herausgeber des Jahrbuchs über die Fortschritte der Mathematik. In Leipzig wurde er 1925 ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und 1928 Dekan der Philosophischen Fakultät.

Im Sommer 1933 setzte eine gezielte Kampagne gegen den hervorragenden Mathematiker ein, der bis dato bei Kollegen und Studenten hohes Ansehen genossen hatte. (Bild 5) Am 4. August 1933 erschien in der Leipziger Tageszeitung ein Artikel, in dem Lichtenstein als „polnischer oder galizischer Jude“ mit mangelhaften Deutschkenntnissen denunziert und seine Entfernung aus der Universität gefordert wurde. Von den politischen Ereignissen und der drohenden Abberufung erschüttert, verstarb der Wissenschaftler mit gerade einmal 55 Jahren während eines Urlaubaufenthaltes in Zakopane. (Bild 6)


Auch der in Bonn lehrende Felix Hausdorff überlebte die nationalsozialistischen Repressalien nicht. Zwar wurde er zunächst im März 1935 regulär emeritiert, wenig später erfolgte aber seine Zwangsversetzung in den Ruhestand. Gegenüber der Emeritierung bedeute dies unter anderem eine Minderung seines Einkommens.[8] Spätestens nach den Novemberpogromen war Hausdorff bewusst, dass das Leben von Juden in Deutschland in Gefahr war und er bemühte sich um eine Stelle im Ausland. So schrieb er im Frühjahr 1939 einen Brief an den nach New York emigrierten Kollegen Richard Courant und ersuchte diesen um Hilfe. Doch Hausdorffs Bemühungen, ein Forschungsstipendium für die Vereinigen Staaten zu erhalten, blieben wahrscheinlich auch wegen seines fortgeschrittenen Alters ohne Erfolg. Im Angesicht der drohenden Deportation wählte Felix Hausdorff gemeinsam mit seiner Frau und deren Schwester am 26. Januar 1942 den Freitod.

Über ein Drittel der Professoren der Mathematik waren zwischen 1933 und 1939 von den politischen und rasseideologischen Säuberungen der Nationalsozialisten betroffen.[9] Jüngeren Wissenschaftlern fiel es oft leichter, zu emigrieren und im Ausland neu zu beginnen. Für diejenigen, denen die Auswanderung bzw. Flucht gelang, war das Leben im Exil häufig von beruflichen, sprachlichen und kulturellen Schwierigkeiten gekennzeichnet. Gleichwohl setzten nicht wenige ihre wissenschaftliche Karriere fort. So kehrte beispielsweise der Mathematiker Aurel Wintner (1903–1958), (Bild 7) ein Schüler Leon Lichtensteins, der ab 1927 in Leipzig studiert und 1928 promoviert hatte, 1933 nicht von einem Aufenthalt als Gastprofessor in den Vereinigten Staaten zurück. Er blieb Professor an der Johns Hopkins Universität in Baltimore und wirkte unter anderem seit 1944 als Herausgeber des American Journal of Mathematics. In Deutschland wurde er noch 1933 ausgebürgert.

Der seit 1919 als Privatdozent und seit 1923 als außerordentlicher Professor in Leipzig tätige Friedrich Levi (1888–1966) flüchtete 1936.[10] (Bild 8) Drei Jahre zuvor wurde ihm das erste Mal die Lehrbefugnis entzogen, doch da er im Ersten Weltkrieg als sächsischer Feldartillerist gedient hatte, konnte er eine Ausnahmeregelung des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ in Anspruch nehmen. Auch auf Betreiben des Dekans Ludwig Weickmann erhielt er einen kleinen Lehrauftrag für Geometrie, bevor er dann 1935 erneut entlassen wurde.[11] (Bild 9) 1936 ging Levi als Hardinge Professor nach Indien und übernahm für zwölf Jahre die Leitung der Abteilung für Höhere Mathematik an der Universität Kalkutta. Ab 1948 beteiligte sich der in seinem Exilland hoch angesehene Levi am Aufbau des Tata Institute of Fundamental Research, School of Mathematics, in Bombay. Trotz seines Erfolgs kehrte er 1952 nach Deutschland zurück, arbeitete als Professor an der Freien Universität Berlin und nach seiner Emeritierung an der Universität Freiburg (Breisgau).

Levis endgültige Entlassung in Leipzig erfolgte gleichzeitig mit vier weiteren Kollegen der Philosophischen Fakultät, darunter der Fotochemiker Fritz Weigert (1876–1947). Vorangetrieben wurde die Entlassungswelle vom sächsischen Gauleiter Martin Mutschmann, der seit Februar 1935 das Amt des Ministerpräsidenten innehatte und das Ziel verfolgte, alle jüdischen oder politisch verdächtigen Angestellten in der öffentlichen Verwaltung und im Bildungswesen zu entfernen. Dabei suspendierte der NS-Funktionär noch geltende Sonderregelungen für jüdische Kriegsteilnehmer, bevor diese mit der Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze im September 1935 ohnehin bedeutungslos wurden. An der Philosophischen Fakultät führte dieses rigide Vorgehen zu einer der wenigen wahrnehmbaren Protestaktionen gegen die Vertreibung und Entrechtung jüdischer Wissenschaftler. So missbilligten in der Fakultätssitzung vom 8. Mai 1935 fünf Mitglieder, darunter der Physiker Werner Heisenberg und der Mathematiker Bartel L. van der Waerden, die erneuten Entlassungen vor dem Rektor der Universität. (Galerie 3) Als Konsequenz wies das Ministerium für Volksbildung die Beschwerdeführer zurecht. Der Dekan der Fakultät, Helmut Berve, verlor sein Amt.[12] (Bild 10)


[1] Moritz Epple, Art. Mathematik, in Dan Diner (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 4, Stuttgart 2013, 82–88.

[2] Ebd., 86.

[3] Annette Vogt, Academic Anti-Semitism, in: Birgit Bergmann u.a. (Hg.), Transcending Tradition. Jewish Mathematiciains in German Speaking Academic Culture, Heidelberg 2012, 198–212, hier 205.

[4] Heinz Klaus Strick, Felix Hausdorff (1868–1942). Um den Nazis zu entgehen, nahm er sich das Leben, https://www.spektrum.de/wissen/felix-hausdorff-meister-der-masstheorie/1602848 (letzter Aufruf: 03.02.2022).

[5] Ebd.

[6] Gabriele Dörflinger, Heinrich Liebmann. Mathematiker. Manuskript des Beitrages in den Badischen Biographien, Neue Folge, Bd. 6, 258–259, Heidelberg 2011, http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/14711/1/Liebmann-BadBio.pdf (letzter Aufruf: 31.01.2022).

[7] Hans Peter Gittel, Leon Lichtenstein, https://www.math.uni-leipzig.de/preprints/p1502.0020.pdf (letzter Aufruf: 23.03.2022).

[8] Moritz Epple, Spielräume des Denkens. Felix Hausdorff und Paul Mongré, in: Astrid Scharz/Alfred Nordmann (Hgg.), Das bunte Gewand der Theorie. Vierzehn Begegnungen mit philosophierenden Forschern, München 2009, 235–263, hier 259.

[9] Epple, Art. Mathematik, 88.

[10] Maximilian Pinl, Kollegen in einer dunklen Zeit. III. Teil, in: Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 73 (1971/72), 153–208, hier 188.

[11] Gerald Wiemers, Verfolgung und Vertreibung 1933–1935. Die Mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung der Philosophischen Fakultät und ihre jüdischen Wissenschaftler, in: Stephan Wendehorst (Hg.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, 563–590, hier 583.

[12] Wiemers, Verfolgung und Vertreibung 1933–1935, 570–571.

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