Medizin

Zeichnung des Physiologischen Instituts in Leipzig (1869) │ gemeinfrei

Noch im 18. Jahrhundert bot das Studium der Medizin die einzige für Juden wählbare akademische Ausbildung.[1] Mit Verbreitung der jüdischen Aufklärung (Haskala) im deutschsprachigen Raum wurden in jüdischen Gemeinden bevorzugt Mediziner angestellt, die an Universitäten diplomiert hatten. Der Beruf des Arztes sicherte in der Regel einen hohen Verdienst und einen entsprechenden sozialen Status; häufig wurden die Gemeindeärzte zu Gemeindevorstehern gewählt. Die Patienten kamen in der Regel aus der Gemeinde. Am Ende des 18. Jahrhunderts schenkten in Folge sich ausbreitender Vernunftkriterien und wachsender religiöser Toleranz auch immer mehr christliche Patienten jüdischen Ärzten ihr Vertrauen. Insbesondere in Großstädten nahm jetzt die Zahl jüdischer Arztpraxen zu. Somit versprach das Studium der Medizin nicht mehr nur berufliches Auskommen und soziales Prestige innerhalb der jüdischen Gemeinden. Vielmehr wurde der Arztberuf zu einer Möglichkeit, gesellschaftliche Integration durch akademische Bildung und beruflichen Erfolg zu erreichen.[2]

An der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig erlangte 1784 Salomon Hirsch Burgheim (1754–1823) den Titel „Doktor der Medizin“.[3] (Bild 1) Burgheim ist wahrscheinlich der erste gläubige Jude, der in Leipzig promovieren konnte. (Galerie 1) Allerdings scheint sein nachfolgender Versuch, sich in Leipzig als Arzt zu etablieren, nicht erfolgreich gewesen zu sein. Burgheim hatte Probleme, die für das Examen angefallenen Gebühren zu entrichten, und konnte zudem die hohe Kopfsteuer für Juden nicht bezahlen. In den Verhandlungen des Stadtrats, der Universität und des Kurfürsten, ob Burgheim als städtischer Jude oder zum wesentlich geringeren Steuersatz eines Universitätsangehörigen veranschlagt werden solle, wurden die Einnahmequellen Burgheims bekannt: Er lebte von spärlichen Honoraren erkrankter Berliner Glaubensgenossen, die Leipzig zur Messezeit besuchten, und von einer mit der Gemeinde ausgehandelten Pauschale für die Betreuung armer Juden. Nicht nur christliche Patienten, sondern auch die wohlhabenderen Juden der Messestadt schienen andere Ärzte bevorzugt zu haben, darunter den 1789 ebenfalls in Leipzig promovierten jüdischen Arzt Ephraim Moses Levi (1757–1803).[4] (Galerie 2)

Dass der Arztberuf die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs und der bürgerlichen Integration bot, zeigt sich exemplarisch an der Biografie von Bernhard Hirschel (1815–1874).[5] Hirschel gehörte zu den ersten Dresdner Juden, die von einem Privatlehrer in weltlichen Fächern unterrichtet wurden.

Später besuchte er das christliche Kreuzgymnasium. Nach seinem Abitur 1832 nahm er an der Chirurgisch-Medizinischen Akademie zu Dresden eine Fachausbildung auf, zwei Jahre später begann er in Leipzig mit dem Medizinstudium.[6] Nach seiner Promotion 1838 war er in Dresden als Arzt und Medizinhistoriker tätig. (Bild 2) Er gehörte zu den seinerzeit europaweit bekannten Vertretern der Homöopathie und bekam für seine Tätigkeit in Sachsen den Titel eines „Sanitätsrats“ verliehen.

Sein Bildungsweg war kein Einzelfall. Bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts studierten fast ein Drittel (28 Prozent) aller jüdischen Studenten an der Universität Leipzig das Fach Medizin. (Diagramm 8) Nur Jura war als Studienfach in Leipzig noch beliebter. Auch bei ausländischen Studenten, insbesondere bei Juden aus dem Zarenreich, war das Medizinstudium in Sachsen beliebt. Zunächst schrieben sie sich nur vereinzelt ein oder kamen als Gastwissenschaftler an die Medizinische Fakultät. Zu ihnen gehörte der spätere Schriftsteller und russische Staatsrat Elias von Cyon (1843–1912), der 1866 als Assistent an die von Carl Ludwig, dem Begründer der modernen Physiologie, geleitete und weltweit bekannte Physiologische Anstalt in Leipzig kam.[7] (Bild 3)

Mit Ludwig verfasste er einen Aufsatz über den Einfluss von Hirnnerven auf die inneren Organe.[8] Später wurde von Cyon auf den Lehrstuhl für Anatomie und Physiologie nach St. Petersburg berufen, wirkte danach aber auch als Finanzberater für die russische Regierung. Er hatte Kontakte zu höchsten Staatskreisen in Frankreich und Deutschland und führte ein von diplomatischen Verwicklungen begleitetes Leben. Über solche namhaften Einzelfälle hinaus zog es vor allem um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vermehrt jüdische Akademiker aus dem Zarenreich nach Leipzig. Im Wintersemester 1912/13 studierten an der Leipziger Universität etwa 5.500 Studenten, davon waren 784 Ausländer,[9] von denen wiederum 409 aus dem Zarenreich kamen. 75 Prozent der russländischen Studenten waren Juden, fast alle von ihnen waren an der Medizinischen Fakultät eingeschrieben.[10] Der Zuwachs der Studenten aus Russland erfolgte zum einen aufgrund der Diskriminierung von Juden an den Bildungseinrichtungen im Zarenreich.[11] Zum anderen gerieten in Folge der Revolution von 1905 politisch aktive Studenten aus Russland an den Universitäten im benachbarten Preußen vermehrt unter Druck und wichen nach Sachsen aus.


KARRIEREN MIT HINDERNISSEN

Der hohe Zulauf an die Medizinische Fakultät darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass für Juden Berufe im staatlichen Gesundheitssystem sowie der Weg zum Hochschullehrer keine Selbstverständlichkeiten waren. Beispielsweise gab es mit Wilhelm Lehmannbeer (1824–1882) bis zum Ersten Weltkrieg nur einen Berufsoffizier jüdischer Religion im Sanitätskorps des sächsischen Militärs. Von 1880 bis zum Ersten Weltkrieg kam es in Sachsen wie auch beim Militär in Preußen nicht mehr zur Ernennung jüdischer Offiziere.[12] Auch der Eintritt jüdischer Ärzte in kommunale Einrichtungen der medizinischen Fürsorge war vielfach unerwünscht. Als der Stadtrat in Chemnitz 1900 eine Assistenzstelle für das städtische Krankenhaus ausschrieb, mussten Bewerber ein Taufzeugnis vorweisen. Der Einspruch der jüdischen Gemeinde, diese Praxis verstoße gegen die in der Verfassung festgeschriebene Gleichbehandlung, wurde von der zuständigen Königlichen Kreishauptmannschaft Zwickau abgelehnt.[13] Im gesamten Reich sorgten Vorbehalte gegen Juden dafür, dass Berufungen zum ordentlichen Professor in der Regel erst nach Konversion und langer Wartezeit erfolgten.[14] Dies muss auch für die Universität Leipzig angenommen werden. So war der bedeutende Pathologe Julius Cohnheim (1839–1884) bereits konvertiert, als er 1878 in Leipzig eine ordentliche Professur antrat und zugleich die Leitung des Pathologischen Instituts übernahm. (Bild 4) Nach Cohnheims Tod wurde sein zwischenzeitlicher Vertreter Carl Weigert (1845–1904), der seit 1879 eine außerordentliche Professur am Lehrstuhl seines Mentors innehatte, nicht auf die Vorschlagsliste für die Nachfolge gesetzt.[15]

Weigert, ein nicht-konvertierter Jude, ging von Leipzig nach Frankfurt am Main und wurde hier als ordentlicher Professor Leiter des Pathologisch-Anatomischen Instituts.[16] (Galerie 3) Der ab 1923 in Leipzig als nichtplanmäßiger außerordentlicher Professor für Geburtshilfe und Frauenheilkunde lehrende Felix Otto Skutsch (1861–1951) hatte sich 1886 in Jena ebenfalls zur Konversion entschieden. Skutsch, geboren in Oberschlesien, besuchte in Breslau das Humanistische Gymnasium und begann dort das Medizinstudium. Als jüdischer Student kam er 1881 nach Leipzig. (Bild 5) Nach seiner Promotion an der Universität in Breslau ging er an die Universitäts-Frauenklinik nach Jena und stieg hier zum ersten Assistenten des Direktors und Lehrstuhlinhabers für Geburtshilfe und Gynäkologie, Bernhard Siegmund-Schulze, auf. Wahrscheinlich ließ er sich auch auf Anraten seines Vorgesetzten am 18. Dezember 1886 taufen. In der evangelischen Michaeliskirche in Jena wird Siegmund-Schulze als zweiter Taufzeuge aufgeführt. 1888 berief die Universität Jena Skutsch zum außerordentlichen Professor. Bei der Nachfolge seines Mentors als Ordinarius und Leiter der Frauenklinik wurde er allerdings ebenfalls übergangen. Aus Enttäuschung darüber verließ er 1903 Jena, habilitierte an die Leipziger Universität um und wirkte hier zunächst von 1905 bis zu seiner Berufung als Privatdozent und als Leiter einer Privatpraxis.[17] (Bild 6) Die Nationalsozialisten entzogen ihm 1933 die Lehrbefugnis und deportieren ihn und seine Frau 1943 nach Theresienstadt. Während seine Frau dort starb, kehrte der hochbetagte Skutsch nach Leipzig zurück, baute hier den Lehrbetrieb für Frauenheilkunde wieder auf und wurde 1947 erneut zum Professor ernannt. (Bild 7)

JENSEITS DES MEDIZINISCHEN ESTABLISHMENTS

Nichtsdestotrotz bestanden für jüdische Akademiker durch Ergreifen des Ärzteberufs immer noch die besten Berufsaussichten, da sie nicht nur an Universitätskliniken und in kommunalen Einrichtungen, sondern eben auch in privaten Praxen tätig werden konnten. In Leipzig arbeiteten am Ende der Weimarer Republik ca. 1.173 Ärzte, ca. 129 und damit etwa elf Prozent waren jüdisch.[18] Zum Vergleich: 1907 waren sechs Prozent aller deutschen Ärzte Juden; 1925 waren es 15 Prozent.[19] Bedenkt man den viel geringeren jüdischen Bevölkerungsanteil, so zeigt sich hier durchaus, wie attraktiv das Medizinstudium für Juden war.

Zudem boten die sich seit dem 19. Jahrhundert immer weiter ausdifferenzierenden Spezialgebiete der Medizin Karrieremöglichkeiten. Aus der Zweiteilung in Innere Medizin und Chirurgie, die lange Zeit vorherrschte, entwickelten sich damals Pädiatrie, Gynäkologie, Dermatologie, Orthopädie und weitere Teildisziplinen. Der Anteil jüdischer Ärzte in diesen neuen Fachbereichen war besonders hoch.[20] Dies lag an einer größeren Offenheit jüdischer Akademiker gegenüber neuen wissenschaftlichen Entwicklungen der Zeit, die mehrere Ursachen hatte. So wird der Einfluss jüdischer Wissenschaftler auf die Erforschung von Haut- und insbesondere Geschlechtskrankheiten darauf zurückgeführt, dass Sexualität in der Tradition des Alten Testaments als integraler Teil des menschlichen Lebens thematisiert, in der christlichen Glaubenspraxis aber tabuisiert wurde. Die Behandlung von Geschlechtskrankheiten und die Erforschung der Sexualität stießen bei jüdischen Akademikern demgegenüber auf weniger religiöse Vorbehalte.[21]

In Leipzig wurde 1887 etwa der aus einer Köthener Kaufmannsfamilie stammende Ludwig Friedheim (1862–1942) Assistenzarzt an der Universitätshautklinik, wo er bereits Medizin studiert hatte. (Bild 8 und 9) In den Folgejahren beschäftigte er sich zunehmend mit der Behandlung von Geschlechtskrankheiten. 1893 folgte seine Habilitierung und zwei Jahre später bearbeitete er im erstmals erscheinenden Diagnostisch-therapeutischen Vademecum für Studierende und Ärzte, einem über Jahrzehnte immer wieder neu aufgelegten medizinischen Lehrbuch, das Kapitel über Haut- und Geschlechtskrankheiten. Letztmalig wird sein Name 1931, in der 25. Auflage, verzeichnet.[22] Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit leitete Friedheim seit der Jahrhundertwende eine eigene Praxis und lehrte bis 1933 als Privatdozent an der Universität.[23] (Galerie 4)

Ein weiterer Grund für den überproportionalen Anteil jüdischer Ärzte in den neuen medizinischen Fachdisziplinen geht auf die sich hier bietenden Berufsperspektiven zurück. Im Sog neuer Erkenntnisse entstanden neue Forschungsstellen und in der Folge moderne Behandlungsmethoden sowie Facharztpraxen. Auf diesen Berufsfeldern waren Konkurrenz und Besitzstandswahrung weniger ausgeprägt als in den herkömmlichen Fachbereichen.[24]

An der Universität Leipzig finden sich einige Beispiele für die frühe jüdische Präsenz in den sich ausdifferenzierenden Fachbereichen der Medizin. So spezialisierte sich Livius Fürst (1840–1907), der Sohn des Orientalisten Julius Fürst, nach seiner medizinischen Promotion 1864 für Frauen- und Kinderheilkunde, als sich diese beiden Teilbereiche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade etablierten. (Bild 10) Von 1865 bis 1986 leitete er dann die Universitätskinderklinik der Stadt.

Fürst leistete sowohl im Krieg 1866 als auch 1870/71 Militärdienst und habilitierte sich im Gründungsjahr des Deutschen Reiches in Leipzig zum Privatdozenten. Für viele Jahre lehrte er an der Universität; zum ordentlichen Professor wurde er allerdings nie berufen. 1893 ging er nach Berlin und war hier weiter als praktischer Kinderarzt tätig.[25]

Noch in den 1920er und 1930er Jahren galt die Kinderheilkunde als medizinisches Randgebiet, das mit sozialmedizinischen Aufgaben und geringeren finanziellen Verdienstmöglichkeiten verbunden war.[26] Immer mehr jüdische Medizinstudenten schienen diesen Vorteil der Marginalität des Fachs zu nutzen, um beruflich Fuß zu fassen.[27] Zu ihnen gehörte der Kinderarzt Siegfried Rosenbaum (1890–1969), der nach seiner Promotion in Breslau 1922 an die Kinderklinik in Leipzig kam. Hier wurde er 1925 habilitiert und 1928 erster Oberarzt. Ein Jahr darauf berief ihn der Senat zum nichtplanmäßigen außerordentlichen Professor. Im Juli 1933 emigrierte der aktive Zionist nach Palästina, wo er sich am Aufbau der Kinderheilkunde beteiligte und später unter anderem als Mitglied des israelischen Wissenschaftsrats und Delegierter Israels in der World Medical Association tätig war.

In welchem Maße persönlicher Erfolg mit zeitgemäßen Entwicklungen verknüpft sein konnte, zeigt sich an den Karrieren von Isidor Bettmann (1866–1942) und Ernst Bettmann (1899–1988). Ersterer wuchs als zweites Kind in einer armen Kaufmannsfamilie in Geisa/Thüringen auf. Die Eltern ermöglichten ihm das Studium der Medizin in Berlin und Würzburg. Nach ersten beruflichen Stationen, unter anderem als Unfallchirurg in Berlin, ließ er sich 1897 als praktischer Arzt in der sächsischen Textilindustriestadt Crimmitschau nieder. Parallel zu seiner ärztlichen Tätigkeit veröffentlichte er Schriften zur medizinischen Vorsorge in der Textilproduktion. 1898 wechselte er nach Leipzig und wurde hier Mitinhaber einer chirurgischen und orthopädischen Heilanstalt. Solche Einrichtungen waren Ausdruck der zunehmenden Industrialisierung, mit der eine wachsende Zahl von Arbeitsunfällen und neue Krankheitsbilder einhergingen. Zudem ergab sich nach Einführung der Kranken- und Unfallversicherung die Notwendigkeit kassenärztlicher Begutachtung von Versicherungsansprüchen. Die nun vielfach entstehenden Heilanstalten boten Privatpatienten und staatlich Versicherten modernste medizinische Versorgung, etwa die Anwendung der Röntgendiagnostik und die Behandlung mithilfe von Bewegungs- und Massageapparaten.[28] Beeinflusst vom Beruf seines Vaters entschied sich der 1899 geborene Ernst Bettmann für das Medizinstudium, spezialisierte sich auf Chirurgie und Orthopädie und promovierte 1923 in Leipzig. (Bild 11) Hier wurde er auch Assistenzarzt an der orthopädischen Universitätsklinik und habilitierte sich 1932 zum Privatdozenten. Eine weitere universitäre Karriere blieb ihm aufgrund der politischen Entwicklungen verwehrt. Er verlor seine Lehrbefugnis und arbeitete bis zu seiner Emigration in die Vereinigten Staaten in der Privatklinik seines Vaters. (Galerie 5)

ANTISEMITISMUS AN DER MEDIZINISCHEN FAKULTÄT

Bereits 1912/13 zeugten Proteste gegen ausländische, vor allem ostjüdische Studierende von der Radikalität des Antisemitismus an deutschen Hochschulen.[29] Die Unruhen entzündeten sich besonders an den Medizinischen Fakultäten, wobei es im sogenannten Klinikerstreit zunächst um den Zugang und die Studienbedingungen angesichts überfüllter Hörsäle und Laboratorien ging. Im Laufe der Politisierung wurde das Sachproblem der steigenden Anzahl von Studierwilligen aus dem In- und Ausland als eine Frage von nationaler Zugehörigkeit dargestellt.[30] Demgegenüber begrüßten einige bekannte Professoren, etwa der Soziologe Max Weber und der Rechtswissenschaftler Gustav Radbruch, öffentlich die Anwesenheit ausländischer Studenten. Sie sahen darin gleichsam den Ausdruck universeller Wissenschaft, die nicht von den Barrieren sozialer Herkunft, Religion und Staatsbürgerschaft verstellt sein dürfe. Der Widerspruch gegen eine national bornierte Indienststellung der deutschen Universitäten kam in dem von Max Weber bekannt gewordenem Ausspruch zum Tragen, er wolle nur noch „Russen, Polen und Juden“ in seinem Seminar akzeptieren.[31]

In Leipzig erreichten die Auseinandersetzungen nicht die Vehemenz, die beispielweise an der Universität Halle zu beobachten war. Hier verhinderten deutsche Medizinstudenten aus Protest gegen die Zulassung russischer Kommilitonen ein Semester lang den Vorlesungsbetrieb. Doch auch aus der im Sommersemester 1913 getroffenen Entscheidung des sächsischen Kultusministeriums und der Universitätsleitung sprach eine klare Sprache: Russische Staatsangehörige durften sich nur dann in Leipzig immatrikulieren, wenn sie bereits mindestens zwei Semester an einer russischen Hochschule studiert hatten. (Galerie 6) Aufgrund der im Russischen Reich geltenden universitären Zugangsbegrenzungen für Juden kam das dem Ausschluss russischer Juden an der Universität Leipzig gleich. Sechs Mitglieder der Medizinischen Fakultät erhoben deshalb gegen diesen Erlass ihre Stimme. In einem Protestschreiben an den Senat der Universität verwiesen sie auf die Leistungen jüdischer Forscher und die für den Fortschritt der Medizin notwendige Freizügigkeit der Wissenschaft. (Galerie 7 und Bild 12)

Ein Jahr nach Ende des Ersten Weltkriegs lancierten Marburger Medizinstudenten einen Aufruf gegen das Studium von „Ostjuden und Ausländern“ an den Verband Deutscher Medizinerschaften (VDM), einem Interessenverband aller reichsdeutschen Medizinstudenten, der von Leipziger Studenten geleitet wurde. Mit unterstützender Kommentierung wurde das Schreiben an die fachübergreifende Dachorganisation der Deutschen Studentenschaft weitergeleitet. Solidarisch vermerkte die Leipziger Leitung des VDM: „Millionen von Deutschen müssen auswandern, und Hundertausende von Ostjuden erhalten Erlaubnis, die deutsche Volksseele mit den nihilistischen Ideen asiatischer Fanatiker zu verpesten und das deutsche Volk auszupowern. Wir sind nicht gewillt, uns zu Mitschuldigen derjenigen Regierungskreise zu machen, die unser Vaterland zum Tummelplatz finsterer Existenzen werden lassen, indem sie rassenfremden und deutschfeindlichen Elementen die Grenze öffnen und Pässe zur Verfügung stellen.“[32] Offensichtlich war der VDM zu diesem Zeitpunkt bereits von völkischer Paranoia durchdrungen.

In den folgenden Jahren gingen neben den studentischen Korporationen von den Medizinstudenten die meisten antisemitischen Aktivitäten berufsständischer Gruppen in der Weimarer Republik aus.[33]

Unter Medizinstudenten verbreitete sich der Antisemitismus besonders stark, weil die Probleme im Gesundheitssystem der Weimarer Republik scheinbar auf die Präsenz jüdischer Ärzte zurückgeführt werden konnte. Viele der in der Mehrzahl aus wohlhabenden Elternhäusern stammenden Mediziner waren vom Wunsch getrieben, den sozialen Status ihrer Elternhäuser zu reproduzieren, was angesichts eines Überangebots von Ärzten bei gleichzeitig steigenden Studierendenzahlen schwierig schien. Enttäuschte und unsichere Zukunftserwartungen beförderten die Verbreitung der irrationalen Krisendiagnostik, welche Juden ihre nationale Zugehörigkeit absprach und sie zu den Schuldigen für Probleme in der Wirtschafts- und Sozialordnung erklärte.[34]

Mit der Verbreitung eines völkischen Selbstverständnisses gerade auch in bürgerlichen Schichten wurde zudem die Medizin als Wissenschaft vom Organismus zu einem Kampffeld. Die antisemitische Propaganda erklärte den vermeintlich jüdischen Materialismus, der nur nach geldwerten Vorteilen strebe, wie auch den Rationalismus mit seinen Vernunftprinzipien zum Angriff auf ein organisch verstandenes Volkstum.[35]

Vor diesem Hintergrund muss vermutet werden, dass die Berufungspraxis der Leipziger Medizinischen Fakultät ebenfalls vom wachsenden Antisemitismus unter Medizinern beeinflusst war. Von den 61 Professoren, die hier 1932 lehrten, war kein einziger Ordinarius jüdischer Herkunft.[36] Unter den 34 nichtplanmäßigen außerordentlichen Professoren waren es vier.[37] Ebenfalls vier der 30 Privatdozenten waren jüdisch.[38] Einen weiteren Hinweis liefert ein 1929 erschienener Artikel in der Zeitschrift des Berliner Kassenärztevereins. Darin berichtete der Autor Felix Goldmann, Gemeinderabbiner in Leipzig, über verwehrte Aufstiegschancen für jüdische Mediziner in der Messestadt. Er empfahl ihnen deshalb, an liberalere Orte, etwa nach Berlin zu wechseln.[39]

Am Ende der 1920er Jahre waren die Zukunftserwartungen angehender jüdischer Mediziner bereits nicht mehr von einem ungebrochenem Aufstiegsoptimismus geprägt. So veranschaulicht etwa der Lebensweg des späteren Nobelpreisträgers für Medizin, Bernhard Katz (1911–2003), einen Wandel der Motive, sich dem Medizinstudium zu widmen. Der Sohn eines aus Russland in die sächsische Messestadt eingewanderten Pelzhändlers studierte ab 1929 Medizin in Leipzig, (Bild 13) hatte diesen Berufsweg aber gegen seine eigentlichen geisteswissenschaftlichen Neigungen gewählt. Angesichts antisemitischer Stimmungen in Deutschland trug sich Katz bereits seit Ende der 1920er Jahre mit dem Gedanken, Deutschland den Rücken zu kehren und nach Palästina zu gehen. Medizin erschien ihm weniger als Möglichkeit des beruflichen Aufstiegs und der bürgerlichen Integration, sondern als nützlicher Ausweg, der ihm und seinen Eltern im Jischuw den Lebensunterhalt ermöglichen sollte. Im Herbst 1934 schloss Katz als letzter jüdischer Student in Leipzig seine medizinische Promotion ab.[40] (Bild 14)


[1] Monika Richarz, Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe, Tübingen 1974, 172; vgl. auch Vgl. auch Eberhard Wolff, Medizin und Ärzte im deutschen Judentum der Reformära. Die Architektur einer modernen jüdischen Identität, Göttingen 2014.

[2] Ebd., 173; Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004, 610; zu den Rollen und Selbstverständnissen jüdischer Ärzte, vgl. Eberhard Wolff, Medizin und Ärzte im deutschen Judentum der Reformära. Die Architektur einer modernen jüdischen Identität, Göttingen/Bristol 2014.

[3] Jens Blecher, Leipzigs erster promovierter Jude. 1784 durfte Salomon Hirsch Burgheim Doktor der Medizin werden, in: Journal: Universität Leipzig 13 (2004), H. 7, 37–38.

[4] Ebd., 38.

[5] Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum, 195–197.

[6] Christian Schmidt, Hirschel, Bernhard, in: Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V. (Hg.), Sächsische Biografie, http://www.isgv.de/saebi (letzter Aufruf: 17.03.2022).

[7] Ortrun Riha, Tradition und Innovation. Die Medizinische Fakultät der Universität Leipzig wird 600 Jahre alt, in: Ärzteblatt Sachsen 6 (2015), 255–260, hier 257.

[8] Elias von Cyon/Carl Ludwig, Die Reflexe eines der sensiblen Nerven des Herzens auf die motorischen der Blutgefässe, in: Arbeiten aus der Physiologischen Anstalt zu Leipzig 1 (1866), 128–149.

[9] Jens Blecher, Landesuniversität mit Weltgeltung. Die Alma mater Lipsiensis zwischen Reichsgründung und Fünfhundertjahrfeier 1871–1909, in: Hartmut Zwahr/Jens Blecher (Hgg.), Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 2, Leipzig 2010, 553–838, hier 747.

[10] Yvonne Kleinmann, ,Ausländer‘ – ,Russen‘ – ,Sozialisten‘. Jüdische Studenten aus dem östlichen Europa in Leipzig, 1880–1914, in: Stephan Wendehorst (Hg.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, 517–540, hier 525; Siegfried Hoyer, Studenten aus dem zaristischen Rußland an der Universität Leipzig 1870/1914, in: Heiner Lück/Bernd Schildt (Hgg.), Recht – Idee – Geschichte, Köln 2000, 431–449.

[11] Ab 1886 galt für Juden im Ansiedlungsrayon ein Numerus clausus. Höchstens zehn Prozent Juden durften an den dortigen Hochschulen studieren.

[12] Michael Schäbitz, Juden in Sachsen – Jüdische Sachsen? Emanzipation, Akkulturation und Integration 1700–1914, Hannover 2006, 302–303.

[13] Joseph Lewy, Die staatsbürgerliche Gleichberechtigung und die jüdischen Aerzte, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums 67 (1903), H. 9, 103–105, hier 104; vgl. auch Schäbitz, Juden in Sachsen – Jüdische Sachsen? 296.

[14] Vgl. Monika Richarz, Berufliche und soziale Struktur, in: Steven M. Lowenstein/Paul Mendes-Flohr/Peter Pulzer/Monika Richarz, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 3, München 2000, 39­–68.

[15] Susanne Hahn, Leistungen jüdischer Mediziner und ihr Schicksal nach 1933, in: Ephraim-Carlebach-Stiftung (Hg.), Judaica Lipsiensia. Zur Geschichte der Juden in Leipzig, Leipzig 1994, 110–122.

[16] Schäbitz, Juden in Sachsen – Jüdische Sachsen? 229.

[17] Ingrid Kästner, Der Frauenarzt Prof. Dr. med. Felix Otto Skutsch, in: Ärzteblatt Sachsen 11 (2013), 486–489.

[18] Vgl. Hahn, Leistungen jüdischer Mediziner und ihr Schicksal nach 1933, 110–122.

[19] Richarz, Berufliche und soziale Struktur, 61. In absoluten Zahlen: 8.000 von insgesamt 52.000 Ärzten; vgl. auch Andrea Lorz, Damit sie nicht vergessen werden! Eine Spurensuche zum Leben und Wirken jüdischer Ärzte in Leipzig, Leipzig 2017, 170.

[20] Nach Angaben von Albrecht Scholz lag der Anteil jüdischer Ärzte im 19. Jahrhundert bei 16 Prozent. Sie stellten dabei allerdings 25 Prozent aller Dermatologen, 21 Prozent der Pädiater und 17 Prozent der Gynäkologen; vgl. Albrecht Scholz, Zur Rolle jüdischer Ärzte in der Dermatologie, in: Albrecht Scholz/Caris-Petra Heidel (Hgg), Medizin und Judentum. Reprint der Tagungsbände von 1994–2000, Frankfurt am Main 2005, 27–33, hier 31–32.

[21] Scholz, Zur Rolle jüdischer Ärzte in der Dermatologie, 29.

[22] Gerald Wiemers, Ludwig Friedheim, in: Kalonymos 15 (2012), H.2, 16.

[23] Zu den in Leipzig an der Hautklinik angestellten jüdischen Ärzten gehörte auch Tibor Benedek (1892–1974), der 1922 an der Universität promoviert wurde und mit der ersten Leipziger Psychoanalytikerin Therese Benedek (1892–1977) verheiratet war.

[24] Scholz, Zur Rolle jüdischer Ärzte in der Dermatologie, 29.

[25] Vgl. Art. Fürst, Livius, in:  Archiv Bibliographia Judaica e. V. (Hg.), Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Bd. 8, München 2000, 264–266.

[26] Ortrun Riha, Der Pädiater Siegfried Rosenbaum, in: Ärzteblatt Sachsen 11 (2013), 480–482, hier 480.

[27] Ablesen lässt sich das am hohen Anteil jüdischer Kinderärzte, die nach 1933 von Maßnahmen der Nationalsozialisten betroffen waren; über die Hälfte der in der Kinderheilkunde beschäftigten Ärzte verlor ihre Beschäftigung. Vgl. Riha, Der Pädiater Siegfried Rosenbaum, 480; vgl. auch Eduard Seidler, Jüdische Kinderärzte 1933–1945. Entrechtet, geflohen, ermordet, Basel u.a. 2007; vgl. auch die biografische Skizze des Kinderarztes Moses Michel Walltuch (1899–1942) in Andrea Lorz, Was ist geblieben? Eine Spurensuche zum Leben und Wirken der Leipziger Ärzte Dr. med. Edgar Alexander, Dr. med. Richard Hirschfeld, Dr. med. Moses Michel Walltuch, Leipzig 2019, 72–105.

[28] Andrea Lorz, Damit sie nicht vergessen werden! hier bes. 60.

[29] Stephan Wendehorst, Universität, Differenz und Innovation. Paradoxe Begegnung mit der Vormoderne, in: Dan Diner (Hg.), Synchrone Welten. Zeitenräume jüdischer Geschichte, Göttingen 2005, 93–118.

[30] Hartmut Rüdiger Peter (Hg.), Schnorrer, Verschwörer, Bombenwerfer? Studenten aus dem Russischen Reich an deutschen Hochschulen vor dem 1. Weltkrieg, Frankfurt am Main 2001, 12.

[31] Hier zit. n. Wendehorst, Universität, Differenz und Innovation, 106.

[32] Hier zit. n. Berward Vieten, Vom Verband deutscher Medizinerschaften zur NS-Medizinerschaft. Medizinstudentische Politik 1918 bis 1933, in: Jahrbuch für kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften, Bd. 6, München 1980, 214–235, hier 224.

[33] Hans Peter Kleuel/Ernst Klinnert, Deutsche Studenten auf dem Weg ins Dritte Reich, Gütersloh 1967, 153.

[34] Vieten, Vom Verband deutscher Medizinerschaften zur NS-Medizinerschaft, 219.

[35] Thomas Beddies/Gerhard Baader, Jüdische Ärzte in der Weimarer Republik, in: Thomas Beddies/Susanne Doetz/Christoph Kopke (Hgg.), Jüdische Ärzte und Ärztinnen im Nationalsozialismus. Entrechtung, Vertreibung, Ermordung, Berlin/Boston 2014, 16–35.

[36] Hahn, Leistungen jüdischer Mediziner und ihr Schicksal nach 1933, 111.

[37] Siegfried Rosenbaum (Pädiater, 1890–1969), Max Goldschmidt (Augenheilkundler, 1884–1972), Felix Skutsch (Gynäkologe), Wolfgang Rosenthal (1882–1971, Kieferchirurg).

[38] Ludwig Friedheim (Dermatologe 1862–1942); Ernst Bettmann (Orthopäde, 1899–1988); Friedrich Peter Fischer (Augenheilkunde, 1896–1949); Owsei Temkin (1902–2002, Medizinhistoriker). Zu den Angaben: Susanne Hahn, Die Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung jüdischer Ärzte nach 1933 in Deutschland, dargestellt am Beispiel der Stadt Leipzig, in: Albrecht Scholz/Caris-Petra Heidel (Hgg.), Medizin und Judentum. Reprint der Tagungsbände von 1994–2000, Frankfurt am Main 2005, 7–14; vgl. auch Ronald Lamprecht, Entlassung, Verfolgung und Emigration medizinischer Hochschullehrer der Universität Leipzig in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Beddies/Doetz/Kopke, Jüdische Ärztinnen und Ärzte im Nationalsozialismus, 149–161.

[39] Hahn, Leistungen jüdischer Mediziner und ihr Schicksal nach 1933, 111.

[40] Ortrun Riha, Leipzigs Nobelpreisträger für Medizin Sir Bernard Katz, in: Ärzteblatt Sachsen 11 (2013), 469–472, hier 470.

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