Am 25. November 1848 würdigte Julius Fürst in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Der Orient den in Wien hingerichteten Revolutionär Robert Blum als Kämpfer für die „Freiheit sans phrase“. Gleichzeitig warnte der jüdische Universitätslehrer davor, dass nach der Niederlage der Revolution in Wien die Juden der Schuld für den Aufruhr bezichtigt und der Verfolgung ausgesetzt würden.[1] Die Sorge Fürsts, Juden könnten zu den Leidtragenden der Ereignisse werden, war nicht unbegründet. In weiten Teilen Europas hatten Missernten und Wirtschaftskrisen zu steigender Unzufriedenheit und schließlich von Frankreich ausgehend zu revolutionären Erhebungen gegen die sozialen und politischen Verhältnisse geführt. (Bild 1) Dabei war es auch zu antijüdischen Gewalttaten und Plünderungen gekommen, so etwa in einigen badischen Landgemeinden.
Auch der seit 1836 in Dresden als sächsischer Oberrabbiner tätige Zacharias Frankel (1801–1875) (Bild 2) bemerkte zu Beginn des Revolutionsjahres 1848 eine öffentliche Ablehnung der erneut aufkommenden Forderungen nach einer Gleichberechtigung für Juden. Selbst die als Verfechter der Religionsfreiheit geltenden Demokraten hätten sich in öffentlichen Versammlungen nicht der im Volk verbreiteten Skepsis gegenüber der Judenemanzipation widersetzt. Doch noch im Laufe des Revolutionsjahrs glaubte auch Frankel, eine zunehmende Bereitschaft innerhalb der Bevölkerung zur Gleichstellung der Juden beobachten zu können.[2] Die sich wandelnden Wahrnehmungen Frankels sind Ausdruck der Unsicherheit und Nichtanerkennung, aber auch der Hoffnung und eines Selbstbewusstseins, die mit der jüdischen Existenz im deutschsprachigen Raum einhergingen.
In Sachsen begannen sich erst ab 1830 die Befürworter einer schrittweisen Verbesserung der rechtlichen Verhältnisse für Juden durchzusetzen. So wurden 1834 die Aufnahme jüdischer Lehrlinge im Handwerk erlaubt und die Ungleichheit bei der Personensteuer aufgehoben. Der Staat übernahm die Oberaufsicht über den Kultus und das Schulwesen der Juden in Dresden und Leipzig und erkannte damit erstmals die jüdische Religion offiziell an.[3] Vertreter einer aufgeklärten Monarchie wie der Leipziger Philosophieprofessor Wilhelm Traugott Krug (1770–1842) verlangten uneingeschränkte Bürgerrechte für Juden und unterstützten dabei innerjüdische Reformbemühungen, die auf die Modernisierung der traditionsbehafteten jüdischen Gemeinden zielten.[4]
So verkehrte Krug mit dem Dresdner Privatgelehrten Bernhard Beer (1801–1861), (Bild 3) der seit den 1820er Jahren mit weiteren, an moderner Wissenschaft interessierten Juden religionsphilosophische Texte in einem für die bürgerliche Gesellschaft der Zeit typischen Leseverein diskutierte. Zudem hatte Beer 1829 einen interkonfessionellen Mendelssohn-Verein gegründet, der sich der handwerklichen sowie wissenschaftlichen Jugenderziehung widmete. 1833 führte er die jüdische Konfirmation für Jungen ein; ein Übergangsritus, der vor allem in reformjüdischen Kreisen auf Resonanz stieß.[5]
Beer publizierte religionsgeschichtliche Werke, veröffentlichte aber zudem eine Reihe von Denkschriften, in denen er sich für die Gleichberechtigung der Juden einsetzte. Auf Initiative Krugs bekam Bernhard Beer 1834 für seine Bemühungen, zeitgemäße Religionsbildung mit moderner Wissenschaft zu verbinden, die Ehrendoktorwürde der Universität Leipzig verliehen. (Galerie 1)
Die Hoffnung auf eine baldige Beseitigung der noch bestehenden Beschränkungen erfüllte sich indes nicht. So benachteiligte die 1831 in Sachsen verabschiedete Verfassung Juden etwa hinsichtlich der Möglichkeiten von Grunderwerb, Gewerbefreiheit und Aufenthaltsrecht. Insofern gab es für Juden viele Gründe, eine Liberalisierung der politischen Verhältnisse zu unterstützen.
In einer Reihe von Artikeln berichtete Der Orient über politische Versammlungen, auf denen Religionsfreiheit und Trennung von Kirche und Staat gefordert wurden, wobei die jüdische Emanzipation als Bestandteil des allgemeinen Freiheitsstrebens angesehen wurde.[6]
Am 2. März 1849 bestätigten die vom sächsischen König Friedrich August II. (1797–1854) ein Jahr zuvor eingesetzte liberale Regierung und das von Demokraten dominierte sächsische Parlament die Trennung von Staat und Kirche sowie die völlige Religionsfreiheit. Damit war die bereits zuvor vom Frankfurter Nationalparlament beschlossene Gleichstellung der Juden auch in Sachsen rechtlich festgeschrieben.
Mit Bernhard Hirschel (1815–1874) (Bild 4), der von 1834 bis 1838 an der Universität Leipzig Medizin studiert hatte und nach seiner Promotion als Arzt, Homöopath und Medizinhistoriker wirkte, (Bild 5) wurde 1849 in Dresden erstmals ein Jude in eine sächsische Stadtverordnetenversammlung gewählt. Die Kopplung des aktiven und passiven Wahlrechts an das Bekenntnis zum christlichen Glauben war entfallen.[7]
Allerdings wendete sich das Blatt und die liberal-demokratische Bewegung erfuhr Anfang 1849 eine Niederlage. Der König lehnte die von der Frankfurter Nationalversammlung entworfene Reichsverfassung ab und löste im April den sächsischen Landtag auf. Daraufhin kam es in Dresden zum Aufstand, der schnell durch preußische und sächsische Truppen niedergeschlagen wurde. (Bild 6) Nach der Niederlage der Aufständischen leitete die Polizei über 3000 Gerichtsverfahren gegen Teilnehmer und Unterstützer der Revolution ein. Auch Bernhard Hirschel wurde verhaftet, kam aber nach zehn Wochen gegen Kaution frei.
Mit der Restauration wurde die in den „Grundrechten des deutschen Volkes“ festgelegte Trennung von Religion und Staat wieder verworfen, einige staatsbürgerliche Rechte, etwa die Niederlassungsfreiheit für Juden, blieben erhalten. Allerdings war es ausdrückliches Ziel der neuen sächsischen Regierung, die Zahl der im Königreich lebenden Juden zu begrenzen.[8] Erst nach dem Beitritts Sachsen zum Norddeutschen Bund 1866 wurde die Emanzipation der Juden gesetzlich bestätigt. (Bild 7) Doch verschwand nach der rechtlichen Gleichstellung die Benachteiligung der jüdischen Bevölkerung nicht. Vielmehr zeigte sich nun immer häufiger der Widerspruch zwischen den Verfassungsregelungen und der Verfassungsrealität.
Sachsen wurde zudem schon früh ein Zentrum des modernen politischen Antisemitismus. In Dresden gründete sich 1879 der Deutsche Reformverein, der 1882 in der sächsischen Residenzstadt den Ersten und 1883 in Chemnitz den Zweiten Internationalen antijüdischen Kongress veranstaltete. Die in der sächsischen Politik viele Jahrzehnte dominierende Konservative Partei integrierte antijüdische Positionen in ihr Programm. Gerade angesichts der Großen Depression (1873–1896), der Wirtschaftskrise, die in Sachsen besonders klein- und mittelständische Textilbetriebe erfasst hatte, galten Juden wie auch Sozialdemokraten als Beförderer eines Materialismus, der die traditionelle christliche Sozialethik bedrohte.
Gleichwohl bestand das Leben der wachsenden, aber nach wie vor sehr kleinen jüdischen Minderheit in Sachsen nicht nur aus Ausgrenzung und Antisemitismus, sondern bot – im Kernland der Industrialisierung – unzählige Möglichkeiten geschäftlicher und beruflicher Etablierung wie auch künstlerischer Verwirklichung. (Diagramme 1 und 2) Höhere Ämter in Bildungswesen, Militär, Justiz und Verwaltung waren der jüdischen Bildungselite allerdings weiter unzugänglich oder nur in Ausnahmefällen zu erreichen.
Die Ausgrenzung bei der Wahl bestimmter Berufe war jetzt jedoch nicht mehr im geltenden Recht festgeschrieben, sondern erfolgte über institutionelle Praktiken.
[1] Der Orient 48 (1848), hier 373.
[2] Michael Schäbitz, Juden in Sachsen – Jüdische Sachsen? Emanzipation, Akkulturation und Integration 1700–1914, Hannover 2006, 185–186.
[3] Daniel Ristau, Jüdisches Leben in Sachsen vom 17. Jahrhundert bis 1840, in: Gundula Ulrich/Olaf Glöckner (Hgg.), Juden in Sachsen, Leipzig 2013, 38–67, hier 57.
[4] Ristau, Jüdisches Leben in Sachsen vom 17. Jahrhundert bis 1840, 56.
[5] Ristau, Jüdisches Leben in Sachsen vom 17. Jahrhundert bis 1840, 54.
[6] Katharina Vogel, Der Orientalist Julius Fürst (1805–1873). Wissenschaftler, Publizist und engagierter Bürger, in: Stephan Wendehorst (Hg.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, 41–60, hier 55.
[7] Solvejg Höppner, Juden in Sachsen zwischen bürgerlicher Revolution und Erstem Weltkrieg, in: Ulrich/Glöckner (Hgg.), Juden in Sachsen, 84–119, hier 87.
[8] Schäbitz, Juden in Sachsen – jüdische Sachsen? 209.