JÜDISCHE JURISTEN AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG
Im Frühjahr 1848 erreichten die Ausläufer der französischen Februarrevolution Sachsen. Im Zuge der Ereignisse sah sich König Friedrich August II. (1797–1854) zur Einsetzung einer liberalen Regierung gezwungen, die schnell versuchte, grundlegende Forderungen – etwa nach Versammlungs- und Pressefreiheit – durchzusetzen und feudale Vorrechte abzubauen. Auch die Abschaffung der Handelsbeschränkungen für Juden stand auf der Tagesordnung. Doch zeigten sich diesbezüglich sogar Liberale und Demokraten zunächst zurückhaltend, weil sie den antijüdischen Aufruhr christlicher Gewerbetreibender fürchteten. Selbst die als fortschrittlich geltenden Stadtverordneten in der Handelsmetropole Leipzig konnten sich nicht dazu entschließen, für die Unabhängigkeit staatsbürgerlicher Rechte vom Glauben einzutreten.[1] Gefordert wurde die rechtliche Gleichstellung nicht nur von den jüdischen Händlern der Messestadt, auch zwei in der Stadt bekannte Gelehrte traten auf Versammlungen und mittels Petitionen dafür ein. Der eine, Julius Fürst (1805–1873), war seit 1839 der erste jüdische Hochschullehrer an der Leipziger Universität. Der zweite, Isidor Kaim (1817–1873), war der erste Jude, der an der Landesuniversität in Leipzig das Jurastudium mit dem Staatsexamen abgeschlossen hatte und seit Februar 1848 als erster jüdischer Anwalt in Sachsen tätig war. (Bild 1)
Wie Fürst schien auch Kaim auf dem Weg sozialer Anerkennung und beruflichen Erfolgs stetig voranzuschreiten. Beide setzten auf akademische Bildung und bürgerschaftliches Engagement. Der Orientalist Fürst erarbeitete sich als Lector publicus für aramäische und talmudische Sprachen sowie als wissenschaftlicher Autor über die Grenzen des Landes hinaus Anerkennung. Am Ende seines Schaffens in einer etablierten, gleichwohl randständigen akademischen Disziplin erhielt er Ehrentitel und Orden. Nach seinem Tod wurde er als verdienter Bürger der Stadt in einem dazumal aufsehenerregenden interkonfessionellen Festakt zu Grabe getragen.
Hingegen blieb das Ableben von Isidor Kaim nahezu unbemerkt. Er starb nach langer Krankheit vereinsamt und arm 1873 in Dresden-Lockwitz.[2] Kaims Tod war ein schicksalsschwerer Abstieg vorausgegangen. Schon bald nach seiner Zulassung als Anwalt geriet er selbst ins Visier der Gerichtsbarkeit. Aufgrund von Betrugsvorwürfen wurde er verhaftet und zu einem mehrjährigen Zwangsaufenthalt in einem Arbeitshaus verurteilt. Kaim verlor seine Kanzlei und die Anwaltszulassung. Damit scheiterte er im juristischen Berufsfeld, das als Staatstätigkeit galt und im protestantischen Sachsen vehement gegen das jüdische Teilhabebegehren abgeschirmt wurde.
DRANG ZUM RECHT
Von den knapp 4.000 Studenten mit jüdischer Religionszugehörigkeit, die an der Universität Leipzig zwischen 1798 bis 1909 immatrikuliert waren, wählten 1.714 Jura als ihr Studienfach. (Diagrammm 7) Diese starke Hinwendung zum Recht, die sich an vielen deutschsprachigen Universitäten abzeichnete, lässt sich auf zwei allgemeine Entwicklungen zurückführen. Zum einen ereigneten sich die zeitgenössischen Schritte zur Emanzipation der Juden selbst, etwa die Habsburger Toleranzpatente Ende des 18. Jahrhunderts, später der Code Napoleon sowie das preußische Judenedikt von 1812, in der Rechtssphäre. Zum anderen transformierte sich die vormalige Bedeutung des jüdischen Religionsrechts im Zuge fortschreitender Integration in ein zunehmendes Interesse an weltlicher Rechts- und Gesetzeskunde.[3] Nicht zufällig gehörten zur ersten Generation jüdischer Juristen häufig Söhne aus Rabbinerfamilien, wie Heinrich Marx (1777–1838), der Vater von Karl Marx, oder Gabriel Riesser (1806–1863), der als Vorkämpfer für bürgerliche Freiheiten und die rechtliche Gleichstellung der Juden bekannt wurde.[4] Während Riesser nach langem Kampf in Hamburg Notar werden konnte, musste Marx konvertieren, um als Jurist im preußischen Trier arbeiten zu können. Umso mehr zeigte ein solcher Schritt, dass der juristische Beruf als Eintritt in die bürgerliche Umgebungskultur angestrebt wurde.
An der Universität Leipzig finden sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts einige Jurastudenten, die erst kurz zuvor den Glauben gewechselt hatten oder dies im Verlauf ihres Studiums taten. Als sich 1828 Robert Lippert (1810–?), jüngstes von sieben Kindern des erfolgreichen Kaufmanns und sächsischen Hofagenten Herz Löw Levi, in die Leipziger Juristenfakultät einschrieb, gab er noch die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde zu Protokoll und war damit der erste jüdische Jurastudent an der Leipziger Universität. (Bild 2) Seinen Nachnamen Levi hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits geändert. Angesichts des bevorstehenden juristischen Vorbereitungsdienstes, einer praktischen Ausbildungsphase vor dem Zweiten Staatsexamen, ließ sich Robert Lippert 1831 taufen.[5]
Im Unterschied zu seinen Vorgängern konvertierte Isidor Kaim nach seiner Einschreibung 1838 nicht.[6] Vielmehr stritt er als Jude für die Aneignung des Rechts. Seine juristische Ausbildung wurde dabei zum Kampffeld für die persönliche und allgemeine rechtliche Gleichstellung der Juden. Als ihm nach Staatsexamen und Vorbereitungsdienst 1844 die Zulassung zum Notar und ein Jahr später auch zum Anwalt verweigert wurde, unter anderem mit Verweis auf eine mittelalterliche Notariatsordnung, die nur Christen zum Amtserwerb legitimierte, petitionierte er an den Landtag und brachte sein Anliegen bei einer öffentlichen Audienz beim sächsischen König vor.[7]
Zudem publizierte Kaim politisch-historische Studien zum Stand der Judenemanzipation, schrieb in der von Julius Fürst herausgegebenen Zeitschrift Der Orient sowie in der Tagespresse und forderte auch als Redner des Vaterlandsvereins die Gleichberechtigung für Juden im Staatswesen.[8]
Im November 1845 erhielt er die ministerielle Erlaubnis zum Anwaltsberuf und eröffnete nach einer obligatorischen Kandidatenzeit im Februar 1848 als erster jüdischer Anwalt Sachsens seine Kanzlei am Leipziger Brühl.[9]
Zunächst sah es so aus, als könne sich Kaim beruflich in Leipzig etablieren; er hatte eine Reihe vorwiegend christlicher Klienten, die er insbesondere in Handelsstreitigkeiten vertrat. Doch schnell zeigten sich neue Schwierigkeiten. Dazu gehörte die Aberkennung der Vertretungsberechtigung in einem Scheidungsverfahren aufgrund seiner jüdischen Religionszugehörigkeit.[10] Als schwerwiegender erwies sich der Vorwurf der Veruntreuung von Wertpapieren, dem sich Kaim 1854 ausgesetzt sah. Er wurde verhaftet, zu einer mehrjährigen Arbeitshausstrafe verurteilt und verlor seine Anwalts- und Notariatserlaubnis. (Bild 3) Heute lässt sich nicht mehr feststellen, ob Kaim einer judenfeindlichen Intrige zum Opfer gefallen oder durch eigenes Fehlverhalten in seine missliche Situation geraten war. Fest steht hingegen, dass gegenüber jüdischen Juristen in Sachsen weiterhin große Vorbehalte existierten. Ihre Zulassung zum Anwalt oder Notar blieb eine Ausnahme.[11] Richter, Staatsanwälte und Juraprofessoren jüdischen Glaubens gab es nicht. Hintergrund der Abschottungspraxis war die Auffassung eines besonders obrigkeitsnahen und sittlich bedeutsamen Charakters juristischer Berufe, für die deshalb das christliche Glaubensbekenntnis als obligatorisch galt.
Auch mit der rechtlichen Gleichstellung durch die neue sächsische Verfassung vom 3. Dezember 1868 änderte sich dies nicht grundlegend. Betrachtet man etwa die rund 2.000 verbeamteten Richter im Sachsen der Kaiserzeit und damit eine Position mit besonders hohem Ansehen innerhalb des Staatsapparats, so lassen sich unter ihnen nur zwei jüdische Juristen nachweisen. Exemplarisch für die fortdauernden Benachteiligungen ist der Fall von Johannes Lehmann. Im Archiv des sächsischen Justizministeriums findet sich eine Beschwerde von 1892, in der Lehmann sich darüber beklagt, dass all seine christlichen Kollegen, die mit ihm gemeinsam das Referendariat in Dresden begonnen hätten, bereits zu Richtern ernannt worden seien. Dem Schriftstück ist eine schriftliche Notiz von Lehmanns Vorgesetztem angeheftet. Darin heißt es: „Leider lässt sich im vorliegenden Fall nicht sagen, daß der Bittsteller in seiner Ausbildung und seinen Leistungen noch nicht so weit gediehen sei, um ihn mit Wahrnehmung einzelner richterlicher Geschäfte betrauen zu können. Er leistet mindestens dasselbe, wie andere christliche Referendare, welchen der Richtereid ertheilt wird.“[12]
AN DER FAKULTÄT
Nach der Reichseinigung nahmen zunächst deutlich mehr jüdische Studierende das Jurastudium auf.[13] Dieser Anstieg fiel mit der allgemeinen Blütezeit der Leipziger Universität und der wachsenden Zahl von Akademikern zusammen. Von 1872 bis 1878 war die hiesige Juristenfakultät stärker frequentiert als jene der Universitäten in Berlin und München. Das alte Collegium Juridicum wurde durch einen modernen Gründerzeitbau ersetzt, der im Oktober 1882 eröffnet wurde.[14] (Bild 4 und 5) Die meisten jüdischen Studenten, die aufgrund der gewachsenen Attraktivität juristischer Berufe, insbesondere nach der 1878 erfolgten gesetzlichen Freigabe des Anwaltsberufs, nach Leipzig zum Studium kamen, stammten nicht aus Sachsen, sondern aus anderen deutschen Ländern und dem Ausland.[15] Die größte Gruppe kam aus Preußen, vor allem aus Schlesien und Posen und damit aus den Regionen Deutschlands mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil. Nach dem Einbruch der Studentenzahlen während des Ersten Weltkriegs wuchs ihre Zahl wieder; bis zum Anfang der 1920er Jahre stieg erneut auch der Anteil von ausländischen Studenten an der Juristenfakultät. Sie waren Angehörige der deutschen Minderheiten in südosteuropäischen Staaten oder kamen aus der Donaumonarchie und den Nachfolgestaaten des Russländischen Zarenreichs.[16] Zu ihnen wurden aber auch Juden gezählt, die schon lange in Deutschland lebten, denen jedoch die Einbürgerung verweigert worden war. Dazu gehörte Felicia Schulsinger (1903–1976), die später die erste jüdische Anwältin in Leipzig werden sollte. Sie war 1906 aus dem damals russländischen Łódź mit ihrer Familie in die Messestadt gekommen.
Die von ihr beantragte Einbürgerung wurde aufgrund eines fehlenden Nachweises über die abgelegte russische Staatsbürgerschaft abgelehnt. Ihr Abitur legte sie als Staatenlose ab und immatrikulierte sich im Sommersemester 1923 an der Juristenfakultät. (Bild 6) Sie war eine von 40 jüdischen Studentinnen, die zwischen 1903 bis 1935 in Leipzig Jura studierten.[17]
In anderen Fächern war der Frauenanteil höher, was auf informelle Barrieren in den juristischen Berufen verweist. Der autoritative Charakter, der juristischen Tätigkeiten nicht selten anhing, korrespondierte mit dem vorherrschenden Geschlechterbild. Die für die Berufsausübung als notwendig erachteten Eigenschaften wie Sachlichkeit und Objektivität sah man eher bei Männern als bei Frauen ausgeprägt. Nicht als Frau sondern als Ausländerin verwehrte man Schulsinger zunächst das Referendariat. Nachdem sie 1928 endlich die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatte, konnte sie ihre Ausbildung fortsetzen.[18] Nach ihrer zweiten Staatsprüfung und ihrer Promotion 1932 in Leipzig eröffnete sie im Dezember des gleichen Jahres mit ihrer Kollegin Elisabeth Struckmann die gemeinsame Kanzlei in Leipzig.
Schon wenige Wochen später musste sie in Folge der nationalsozialistischen Berufsverbote ihre juristische Laufbahn wieder aufgeben. Auch die meisten anderen jüdischen Jurastudenten brachen in den nächsten Monaten ihr Studium ab, weil es keine Aussichten auf eine berufliche Zukunft mehr bot. Als letzter jüdischer Student gilt Herbert Weinmann, der über München und Berlin nach Leipzig gekommen war und am 9. November 1936 aus der Universität ausschied.[19] (Bild 7)
DAS KONFESSIONELLE MOMENT
Eine ganze Reihe jüdischer Jurastudenten an der Universität Leipzig wurde später in der Öffentlichkeit bekannt. Zu ihnen gehörte Eugen Schiffer (1860–1954, in Leipzig 1878) (Bild 8 und 9) unter Philipp Scheidemann 1919 stellvertretender Ministerpräsident und danach zweimal für einige Monate Justizminister in der Weimarer Republik. Von 1898 bis 1899 hatte auch Max Alsberg (1877–1933) in Leipzig studiert. Bekannt wurde er vor allem als Strafverteidiger prominenter politischer Persönlichkeiten. So verteidigte er 1931 den Herausgeber der Weltbühne Carl von Ossietzky in einem Prozess gegen den Vorwurf des Landesverrats. (Bild 10 und 11)
Der erste an der Leipziger Juristenfakultät promovierte Jude war 1852 Theodor Wolf (1823–?). Von 1844 bis 1847 hatte er in Leipzig und Berlin studiert und war 1849 zum Notar berufen worden – ein Novum in Sachsen. (Bild 12) Aber erst, als er zum evangelisch-lutherischen Glauben konvertiert war – wenige Tage nach dem Tod des Vaters –, wurde er als Richter eingesetzt. Wolf beendete 1888 seine Laufbahn als Landesgerichtsdirektor in Zwickau und wurde mit dem Ritterkreuz Erster Klasse ausgezeichnet.[20]
Nach der Reichseinigung stieg die Zahl der in Leipzig promovierenden Juristen an. Die Alma Mater zog viele Doktoranden an, die vorher nicht in Leipzig studiert hatten. Die Anforderungen für eine Promotion galten als vergleichsweise niedrig.[21] Nichtsdestotrotz wurden einige der Promovenden erst später prominent. So wurde der Anwalt Eugen Fuchs (1856–1923; in Leipzig 1874 und 1883) von 1917 bis 1919 Vorsitzender des Centralvereins (Bild 13 und 14) und der Rechtspolitiker Oskar Cohn (1869–1934, in Leipzig 1892) war von 1912 bis 1918 Reichstagsabgeordneter für SPD und USPD, 1919/20 Mitglied der Weimarer Nationalversammlung und 1934 Teilnehmer am Jüdischen Weltkongress.[22] (Bild 15)
Auffallend ist der signifikant höhere Anteil promovierter jüdischer Anwälte. Zwischen 1879 und 1929 hatten 58 Prozent der in Leipzig zugelassenen Anwälte einen Doktortitel; der Promotionsanteil bei den jüdischen Anwälten lag im Vergleich dazu bei 77 Prozent.[23] Das Ungleichgewicht lässt sich als Ausdruck einer spezifischen Wettbewerbsstrategie deuten: Weiter bestehenden Vorbehalten gegenüber Juden wurde mit einem formal höheren Bildungsabschluss geantwortet. Das Zahlenverhältnis könnte aber auch ein Hinweis darauf sein, dass promovierte jüdische Juristen angesichts akademischer Barrieren in die freien Berufe wechselten. Denn nach wie vor war eine Karriere als Hochschullehrer an der Juristenfakultät schwierig. Das christliche Glaubensbekenntnis war Voraussetzung, um in Leipzig zum Professor berufen zu werden. So gelang es dem Staatsrechtler und Rechtsphilosophen Georg Jellinek (1851–1911) 1889 in Leipzig nicht, Professor zu werden, obwohl er Fürsprache u.a. vom bekannten Philosophen Wilhelm Windelband erfuhr.[24] Sein Vater, der weitbekannte Prediger Adolf Jellinek (1820/21–1893), kommentierte die beruflichen Hindernisse seines Sohns mit der Feststellung, dass das „confessionelle Moment […] noch eine große Rolle bei der Verleihung von Professuren“[25] gespielt habe.
Erst das protestantische Bekenntnis ermöglichte Akademikern, die einen jüdischen Familienhintergrund hatten, einen ungehinderten Aufstieg. Emil Friedberg (1837–1910), Sohn des 1824 zur evangelischen Kirche übergetretenen Adolf Friedberg, wurde 1869 auf eine ordentliche Professur für Kirchenrecht berufen. (Bild 16) Mehrfach wurde er zum Dekan der Fakultät gewählt und wirkte von 1896 bis 1897 als Rektor der Universität. Er war Ehrenbürger der Stadt.[26] Diese Anerkennung war vor allem die Folge seines Engagements im Kulturkampf zwischen Bismarck und der katholischen Kirche, in dem er rigoros für die Seite des Staates Partei ergriff.[27] In der Tradition des Hegelschen Denkens galt dem protestantischen Kirchenrechtsprofessor der Staat als übergeordneter Träger der sittlichen Idee und objektiver Garant des Gemeinwohls. Trotz der darin angelegten staatsautoritären Tendenz war diese Geisteshaltung Ausdruck gesellschaftlicher Modernisierung, die sich faktisch gegen die informellen Einflüsse der Kirche im Staatapparat richtete. (Bild 17) Mit Sympathie berichtete deshalb die Allgemeine Zeitung des Judenthums im August 1873 von einem beachtenswerten Votum zur rechtlichen Stellung der Juden, vor allem zur Befähigung jüdischer Richter. Emil Friedberg hatte aus Anlass der öffentlich abgehaltenen Prüfungen an der Universität erklärt, dass „er es gesetzlich als gar nicht zweifelhaft halte, daß ein jüdischer Richter die Berechtigung haben müsse, den Christen Eide abzunehmen, da diese Berechtigung lediglich in der Richterqualifikation ruhe“.[28] Dies war eine Auffassung, die der Benachteiligung jüdischer Juristen entgegenstand.
Zu den christlichen Rechtsgelehrten mit jüdischer Herkunft, die in Leipzig zu ordentlichen Professoren ernannt wurden, gehörte auch der Begründer der Versicherungswissenschaft und Experte im Handelsrecht Victor Ehrenberg (1851–1929). Ehrenberg, der schon in Leipzig studiert hatte, wurde hier 1911 zum Professor berufen und gab in den folgenden Jahren das achtbändige Handbuch des gesamten Handelsrechts heraus. Er galt als einer der angesehensten Vertreter seines Fachs.[29] (Bild 18 und 19) Vor ihm hatte insbesondere Levin Goldschmidt (1829–1897) diese Disziplin geprägt, der 1866 in Heidelberg zum ordentlichen Professor berufen wurde. Vier Jahre später wurde er zum Richter am Bundes-Oberhandelsgericht in Leipzig, dem späteren Reichsgericht, ernannt.[30]
Auch deshalb galt das Handelsrecht als „Domäne jüdischer Juristen“.[31] Es etablierte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als neuer Teilbereich der Rechtswissenschaft. Seine Relevanz erwuchs aus der Angleichung der unterschiedlichen Rechtsverhältnisse in den deutschen Bundesstaaten nach der Reichseinigung sowie in Folge des steigenden nationalen und internationalen Waren- und Finanzverkehrs in dieser Phase kapitalistischer Globalisierung. Für akademische Aufsteiger bot die neue Teildisziplin berufliche Perspektiven. Doch nicht nur im Handelsrecht, sondern ebenso im bürgerlichen Recht, Zivilprozessrecht, Verwaltungsrecht und in der Rechtsgeschichte finden sich Karrierewege von Wissenschaftlern jüdischer Herkunft.[32]
DIFFERENZ UND ERZWUNGENE ANGLEICHUNG
Am Ende der Weimarer Republik sollten sich zwei Staatsrechtler mit jüdischer Herkunft, die in Leipzig zunächst als Kollegen zueinander gefunden hatten, in einem aufsehenerregenden Prozess gegenüberstehen.
Erwin Jacobi (1884–1965), seit 1920 Ordinarius für Öffentliches Recht in Leipzig, hatte 1921 in Leipzig das Institut für Arbeitsrecht gegründet. (Bild 20) Seine Haltung zu arbeitsrechtlichen Fragen war dabei stark vom Ideal einer mittelständischen Industrie- und Handelskultur geprägt und ging auf Erfahrungen zurück, die er als Sohn eines Warenhausbesitzers im sächsischen Zittau gemacht hatte. Große Kapitalverbände ebenso wie die Massengewerkschaften betrachtete er mit Distanz;[33] Nichtsdestotrotz holte er Wissenschaftler mit abweichenden Positionen an sein Institut. Zu den Gästen gehörten unter anderen der Begründer des Tarifrechts Hugo Sinzheimer (1875–1945) und der in Leipzig habilitierte Rechtshistoriker Eugen Rosenstock-Huessy (1888–1973) – beide hatten 1921 in Frankfurt am Main die Akademie der Arbeit ins Leben gerufen.[34] Mit Rosenstock-Huessy war Jacobi Zeit seines Lebens befreundet. Während jener allerdings Sympathien für die Oktoberrevolution und die Münchner Räterepublik zeigte, entwickelte Jacobi nach den Erfahrungen von Kriegsniederlage, Revolution und Terror durch rechtsradikale Freikorps eine stark ausgeprägte Sehnsucht nach staatlicher Ordnung. Exekutive Vollmachten müssten an Gesetze gebunden bleiben und Staatsmacht auf legitimer Volksvertretung beruhen – so eine seiner Grundpositionen.[35] Mit seinen arbeitsrechtlichen und verfassungsrechtlichen Anschauungen gehörte Jacobi eher zum rechts-konservativen Meinungsspektrum in der Weimarer Republik. Allerdings befürwortete er die Anstrengungen zur Arbeiterbildung und engagierte sich persönlich an der Volkhochschule in Leipzig.[36]
Das verband ihn mit dem sozialdemokratischen Rechtswissenschaftler Hermann Heller (1891–1933), der 1922 das Volksbildungsamt in Leipzig übernommen hatte und zu den Gründern der dortigen Volkshochschule gehörte. (Bild 21 und 22) Heller hatte seine in Leipzig begonnene Habilitation 1920 in Kiel abgeschlossen.[37] Hier engagierte er sich auch gemeinsam mit seinem akademischen Förderer, dem späteren Reichsjustizminister Gustav Radbruch, in der Volksbildung.[38] Ihr pädagogisches Ziel bestand darin, Arbeiter, Handwerker und Bauern an die Wissensbestände der bürgerlichen Gesellschaft heranzuführen und im Gegenzug auch die Experten bürgerlicher Wissensbestände für soziale Problemstellungen zu sensibilisieren. Heller verteidigte die Weimarer Republik und prägte in seiner Schrift von 1930 Rechtsstaat oder Diktatur den Begriff des „sozialen Rechtsstaats“.[39] Dieser müsse sowohl soziale Sicherheit und Chancengleichheit als auch die zivile Austragung politischer Interessenkonflikte in parlamentarischer Form garantieren.[40]
Aufgrund seiner politischen Haltung und seiner Kritik am strukturellen Konservatismus der deutschen Universitäten blieben Hellers Versuche, in Leipzig zum Professor berufen zu werden, erfolglos. Die Mehrheit der Fakultät lehnte ihn ab und auch der ihn schätzende Dekan Erwin Jacobi berichtete 1926 gegenüber dem Sächsischen Volksbildungsamt, dass sich Heller gegen die Fakultätsmehrheit nicht als Professor durchsetzen lasse.[41] (Bild 23)
Heller verließ Leipzig im Frühjahr 1926 und wurde später Professor in Berlin und Frankfurt/Main. Im Herbst 1932 begegneten sich Jacobi und Heller am Staatsgerichtshof des Leipziger Reichsgerichts als Kontrahenten in einer der letzten verfassungspolitischen Kontroversen der ersten deutschen Demokratie. Heller klagte im Auftrag des preußischen Staatsministeriums und der Landtagsfraktionen von SPD und Zentrum gegen die vom Reichspräsidenten Paul Hindenburg unterzeichnete Notverordnung, die am 20. Juli 1932 zum Sturz der geschäftsführenden Regierung in Preußen, dem sogenannten Preußenschlag, geführt hatte. Die Einsetzung des amtierenden Reichskanzlers Franz von Papen zum Reichskommissar für Preußen war als notwendiger Schritt zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit begründet worden. Dagegen beriefen sich die gerichtlichen Vertreter der Reichsregierung, federführend Jacobis Kollege und Freund Carl Schmitt, auf bürgerkriegsähnliche Zustände angesichts gewaltsamer Ausschreitungen zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten. Jacobi war als Befürworter einer starken Zentralgewalt und weitgehender Eingriffsbefugnisse des Staatsoberhaupts in die Landeshoheit zur juristischen Vertretung der Reichsregierung hinzugezogen worden.[42] Demgegenüber kritisierte Heller mit einiger Weitsicht die Begründungen der Regierungsseite. Er benannte die NSDAP als Nutznießerin einer Schwächung parlamentarischer Befugnisse und warf der Verteidigung vor, in einer zweifelhaften Beziehung zur Reichsverfassung zu stehen.[43]
Nur wenige Monate danach sahen sich Jacobi und Heller in Folge der Machtübertragung an die Nationalsozialisten mit den Regelungen des Berufsbeamtengesetzes konfrontiert. Heller, dem aufgrund seiner deutlich antifaschistischen Grundhaltung politische Verfolgung drohte, entzog sich dieser im Verlauf einer Vortragsreise nach Großbritannien und nahm das Angebot einer Gastprofessur in Madrid an. Im November 1933, kurz nach seiner in Abwesenheit verfügten Entlassung als Professor in Frankfurt/Main, starb er in der spanischen Hauptstadt an einem Herzleiden.
Jacobi wurde als „nichtarischer Beamter“ der Verbleib an der Universität verwehrt. Den Zwangsruhestand vor Augen, versuchte er noch die Ausnahmeregelungen zu beanspruchen, die vorerst für jüdische Teilnehmer des Ersten Weltkriegs und für langgediente Staatsbedienstete galten. In dieser Situation wandte sich Jacobi mit der Bitte um Unterstützung an Carl Schmitt. (Bild 24) In einem Brief an ihn machte er deutlich, dass er sich zu Unrecht dem Vorwurf nationaler Unzuverlässigkeit ausgesetzt sah. Schmitt antwortete schriftlich als Preußischer Staatsrat, zu dem er nur wenige Tage zuvor von Hermann Göring berufen worden war. Er bescheinigte Jacobi, sich im Rechtsstreit um die Absetzung der sozialdemokratischen Regierung Preußens, den Schmitt als „gefährlichen Kampf um die Beseitigung einer marxistischen Regierung“ bezeichnete, in einer Weise als national zuverlässig erwiesen zu haben, die jedem „altbewährten Beamten gleichstellt“ sei.[44] Die Fürsprache blieb erfolglos. Im Oktober 1933 wurde Jacobi in den Zwangsruhestand verabschiedet.
[1] Michael Schäbitz, Juden in Sachsen – Jüdische Sachsen? Emanzipation, Akkulturation und Integration 1700–1914, Hannover 2006, 189.
[2] Nach Informationen von Hubert Lang starb Kaim am 1. September 1873; vgl. Hubert Lang, Zwischen allen Stühlen. Juristen jüdischer Herkunft in Leipzig (1848–1953), Kaufering 2014, 407. Im Widerspruch dazu führt Steffen Held an, indem er als letztes nachweisbares Lebenszeichen einen Eintrag Kaims im Berliner Adressbuch von 1877 als Besitzer einer „Firma für Garne, Woll- und Baumwollabfälle“ bezeichnet wurd; vgl. Steffen Held, Isidor Kaim, in: Jüdische Gemeinde Dresden (Hg.), Einst & Jetzt, Dresden 2003, 146–147, hier 138.
[3] Monika Richarz, Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe, Tübingen 1974, 178.
[4] Eric Lindner, Gabriel Riesser. Der Advocat der Einheit, in: Sabine Freitag (Hg.), Die Achtundvierziger. Lebensbilder aus der deutschen Revolution, München 1998, 160–170; vgl. auch zur Attraktivität der Rechtswissenschaft für Juden aus Rabbinerfamilien auch Jerold S. Auerbach, Rabbis and Lawyers. The Journey from Thora to Constitution, Bloomington, Ind., 1990.
[5] Später arbeitete er als Anwalt in Grimma, einer Kleinstadt in der Nähe von Leipzig, bevor er ins Russländische Zarenreich auswanderte und als Übersetzer Alexander Puschkins ins Deutsche wie auch als Mitinhaber eines Bucherverlags in Erscheinung trat. Lang, Zwischen allen Stühlen, 472–474.
[6] Ebd., 407.
[7] Ebd., 408; vgl. auch Held, Isidor Kaim, 138; Schäbitz, Juden in Sachsen – Jüdische Sachsen? 179–180.
[8] Hubert Lang, Denn die große Frage läuft am Ende nur darauf hinaus, zu wissen, ob die Juden Menschen sind. Isidor Kaim. Der erste jüdische Advokat in Sachsen, http://hubertlang.de/anwaltsgeschichte/denn-die-grosse-frage-laeuft-am-ende-nur-darauf-hinaus-zu-wis%c2%adsen-ob-die-juden-menschen-sind (letzter Aufruf: 19.01.2022).
[9] Ebd.
[10] Lang, Zwischen allen Stühlen, 103–104.
[11] Am 3. September 1849 wurde mit Theodor Wolf (1823–?) der erste jüdische Notar in Sachsen ernannt, 1862 wurde Martin Drucker sen. (1834–1913) zweiter jüdischer Anwalt in Sachsen und ein Jahr danach erhielt Emil Lehmann, später Abgeordneter für die Fortschrittspartei in der 2. Kammer des Sächsischen Landtags, seine Zulassung.
[12] Schäbitz, Juden in Sachsen – Jüdische Sachsen? 299.
[13] Lang, Zwischen allen Stühlen, 884.
[14] Bernd Rüdiger Kern, Rechtswissenschaft, in: Ulrich von Hehl u.a. (Hg.), Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 4, Leipzig 2009, 103–147, hier bes. 120 und 126.
[15] Lang, Zwischen allen Stühlen, 21–28.
[16] Vgl. Ulrich von Hehl, In den Umbrüchen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Universität Leipzig vom Vorabend des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1909 bis 1945, in: Franz Häuser (Hg.), Geschichte der Universität Leipzig, 1409–2009, Bd. 3, Leipzig 2010, 17–329, hier 133.
[17] Dies entsprach einem Anteil von 3,5 Prozent aller jüdischen Studenten in Leipzig; vgl. Lang, Zwischen allen Stühlen, 32.
[18] Steffen Held, Art. Hart, Felicia (Dr. jur., geborene Schulsinger), https://www.leipzig.de/jugend-familie-und-soziales/frauen/1000-jahre-leipzig-100-frauenportraets/detailseite-frauenportraets/projekt/hart-felicia-dr-jur-geborene-schulsinger (letzter Aufruf: 18.01.2022).
[19] Lang, Zwischen allen Stühlen, 34.
[20] Ebd., 634–635.
[21] Ebd., 39–40.
[22] Ebd., 48.
[23] Ebd., 37.
[24] Martin J. Sattler, Georg Jellinek (1851–1911). Ein Leben für das öffentliche Recht, in: Helmut Heinrichs u.a. (Hg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, 355–368.
[25] Vgl. Steffen Held, Jüdische Hochschullehrer und Studierende an der Leipziger Juristenfakultät. Institutionen und Akteure von der Weimarer Republik bis in die frühe DDR, in: Stephan Wendehorst (Hg.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, 207–244, hier 209.
[26] Christoph Link, Emil Friedberg (1837–1910). Kirchenrechtler der historischen Rechtsschule, ,Staatskantonis‘ und Mitstreiter im ,Kulturkampf‘, in: Heinrichs, Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 283–300, hier bes. 285.
[27] Link, Emil Friedberg (1837–1910), 290.
[28] N.A., Aus Rußland, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums 37 (1873), H. 34, 540–552, hier 552.
[29] Peter Landau, Juristen jüdischer Herkunft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Heinrichs, Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 133–213, hier bes. 200.
[30] Thomas Henne, ,Jüdische Juristen‘ am Reichsgericht und ihre Verbindungen zur Leipziger Juristenfakultät 1870–1945, in: Wendehorst (Hg.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, 189–206, hier bes. 193–196.
[31] Landau, Juristen jüdischer Herkunft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, 200.
[32] Vgl. Lang, Zwischen allen Stühlen, 51–61.
[33] Martin Otto, Von der Eigenkirche zum volkseigenen Betrieb. Erwin Jacobi (1884–1965). Arbeits-, Staats- und Kirchenrecht zwischen Kaiserreich und DDR, Tübingen 2008, 412.
[34] Ebd., 72.
[35] Ebd., 47.
[36] Held, Jüdische Hochschullehrer und Studierende an der Leipziger Juristenfakultät, 218.
[37] Christoph Müller, Hermann Heller (1891–1933). Vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat, in: Heinrichs, Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 767–780.
[38] Uwe Volkmann, Hermann Heller (1891–1933), in: Peter Häberle/Michael Kilian/Heinrich Wolff (Hgg.), Staatsrechter des 20. Jahrhunderts. Deutschland, Österreich, Schweiz, Berlin/Boston 2015, 393–408.
[39] Hermann Heller, Rechtsstaat oder Diktatur? Tübingen 1930, 10.
[40] Müller, Hermann Heller (1891–1933), 777.
[41] Held, Jüdische Hochschullehrer und Studierende an der Leipziger Juristenfakultät, 220–221.
[42] Ebd., 223.
[43] Müller, Hermann Heller (1891–1933), 771.
[44] Hier zit. n. Held, Jüdische Hochschullehrer und Studierende an der Leipziger Juristenfakultät, 228.