Einführung: Drei Generationen der Familie Fürst

Zeichnung von Julius Fürst│Illustrirte Zeitung, Bd. 54 (1870), S. 117; gemeinfrei.

Von 1854 bis 1873 regierte König Johann I. (1801–1873) als Katholik das mehrheitlich protestantische Königreich Sachsen. Der Monarch, der Dantes Göttliche Komödie ins Deutsche übertrug, wirkte nicht zuletzt als Kenner und Förderer der Wissenschaften. In Leipzig suchte er mehrmals den Kontakt mit dem weit über die Landesgrenzen hinaus bekannten Orientalisten Julius Fürst (1805–1873), (Bild 1) der als erster ungetaufter Jude an der Universität Leipzig eine Anstellung als Lektor und Sprachlehrer erhalten hatte.[1] Bei einem Zusammentreffen erkundigte sich der sächsische König nach dem Befinden des Wissenschaftlers, worauf er die Antwort erhielt: „Schlecht, Eure Majestät; ich bin immer noch nicht Professor.“ Der König antwortete: „Beruhigen Sie sich, ich kann es als Katholik auch nicht werden.“[2]

Diese Begegnung wirft ein Schlaglicht auf die Widersprüche und Spannungen, denen sich der jüdische Gelehrte Fürst, welcher sich um kulturelle Anpassung und akademische Anerkennung bemühte, im Sachsen um die Mitte des 19. Jahrhunderts ausgesetzt sah. Damit verweist die Anekdote aber auch auf einen zeittypischen Wandel, der althergebrachte Institutionen herausforderte. Schon dem Wunsch Fürsts, Professor zu werden, ging eine hohe soziale und geografische Mobilität voraus, die er mit vielen bildungs- und aufstiegsorientierten Juden der Zeit teilte.[3]

Fast ohne Deutschkenntnisse und ohne finanzielle Mittel kam der 15-jährige Fürst 1820 aus einem kleinen Dorf in der südpreußischen Provinz Posen nach Berlin. Bis dahin hatte der Sohn eines Rabbiners nur eine traditionelle jüdische Religionsschule besucht und sich autodidaktisch Kenntnisse klassischer Sprachen angeeignet. Nachdem er sein Reifezeugnis erlangt hatte, begann er mit einem Studium der Philosophie, Theologie und Orientalistik, das er nach Stationen in Berlin, Breslau, Halle und Leipzig schließlich mit einer Promotion in Jena abschloss. Als Privatgelehrter ließ er sich 1833 in Leipzig nieder und wurde hier sechs Jahre später als Lektor für aramäische und talmudische Sprachen zum ersten jüdischen Hochschullehrer Sachsens. (Bild 2) Die Möglichkeit, ordentlicher Professor zu werden, blieb Fürst als Jude allerdings verwehrt.

Auch die Protektion des sächsischen Monarchen änderte daran nichts, stand dessen persönlicher und politischer Werdegang doch selbst im Spannungsverhältnis von Modernität und Tradition.[4] Vor seiner Thronbesteigung durchlief Johann I. eine Ausbildung in der Verwaltung des Königreichs; als Regent modernisierte er ab 1854 das Justizwesen, brachte den Ausbau des Eisenbahnnetzes voran, förderte die industrielle Entwicklung und vertrat Positionen religiöser Toleranz.[5] (Bild 3) Gleichzeitig dachte er politisch konservativ und verteidigte den christlichen Charakter des sächsischen Staates. Noch 1837 hatte es Johann als Mitglied der Ersten Kammer des sächsischen Landtags abgelehnt, dass Juden als Advokaten zugelassen werden. Der „christliche Staat“, so der Thronfolger, der 1854 nach dem Tod seines kinderlos gebliebenen Bruders die sächsische Krone übernahm, müsse „auch von christlichen Grundsätzen durchdrungen seyn.“ Deshalb dürften „Nichtchristen auch an politischen Rechten nicht Antheil nehmen“.[6]

Julius Fürst bekam im Mai 1864 nach 25 Jahren akademischer Lehrtätigkeit eine Ehrenprofessur verliehen. Dieser Titel war weder mit den universitären Mitspracherechten noch den finanziellen Einkünften einer ordentlichen Professur verknüpft; nichtsdestotrotz dokumentiert er die Wertschätzung, die dem Orientalisten an der Universität entgegengebracht wurde. Im April 1870 berichteten die Leipziger Zeitungen davon, dass König Johann ihm in Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen den sächsischen Albrechtsorden verliehen hatte.[7] Als in der Universität und Bürgergesellschaft der Stadt hoch angesehener Gelehrter verstarb Fürst im Februar 1873.

Über die Grenzen der Religionen hinweg nahmen Leipziger Standespersonen und Vertreter der Regierung an der von der jüdischen Gemeinde ausgerichteten Trauerfeier teil. Sein Sohn Livius (1840–1907) (Bild 4) sprach in einer späteren Erinnerung „von so eigenartigem, zugleich rituellem wie interkonfessionellem Charakter, wie es Leipzig bis dahin nicht gesehen hatte“. Zudem rühmte ein Nachruf der in Leipzig herausgegebenen Zeitschrift Die Gartenlaube, des ersten erfolgreichen Massenblattes, das deutschlandweit vertrieben wurde, Fürst als „nicht bloß eine der geachtetsten, sondern auch der beliebtesten Persönlichkeiten Leipzigs“.[8]


Angesichts der Stellung des Vaters begann Livius Fürst seine eigene akademische Karriere mit besseren Ausgangsbedingungen. Nicht als Schriftgelehrter alter Sprachen, sondern als Arzt für Frauen- und Kinderheilkunde, zwei Fächer, die sich um die Jahrhundertwende im Zuge der modernen Ausdifferenzierung der Medizin im 19. Jahrhundert zu eigenständigen Teildisziplinen entwickelten, wurde der Sohn Julius Fürsts zu einem über Sachsen hinaus bekannten Experten. Nach seinem Medizinstudium in Jena und Leipzig wurde er 1864 promoviert. (Bild 5) Ein Jahr später übertrug man ihm die Leitung der Pädiatrischen Poliklinik der Messestadt, die er mehr als 20 Jahre innehatte. Sowohl im Krieg von 1866 als auch jenem von 1870/71 leistete Livius Fürst Dienst als Militärarzt. Noch im Gründungsjahr des Deutschen Reiches 1871 habilitierte er sich in Leipzig zum Privatdozenten.[9] An der Medizinischen Fakultät lehrte er 42 Semester, daneben schrieb er fach- und populärwissenschaftliche Bücher über Kinderkrankheiten und Frauenhygiene, tat sich aber auch als Märchenschriftsteller und Herausgeber eines Lessing-Mendelssohn-Gedenkbuchs hervor.[10]

Livius Fürst war ein deutsch-jüdischer Gelehrter par excellence, der 1877 den Ehrentitel des Sanitätsrats verliehen bekam. Zum Professor wurde jedoch auch er nie berufen. 1893 verließ er Leipzig und lebte fortan in Berlin. So stehen sein beruflicher Erfolg und seine hoch angesehene Stellung in Sachsen einerseits für erfolgreiche jüdische Teilhabe und geben doch Hinweise auf fortbestehende Beschränkungen.

Das Schicksal der Familie Fürst bezeugt schließlich auch das Ende, ja die unmenschliche Umkehr des jüdischen Strebens nach gesellschaftlicher Teilhabe in Deutschland. Livius Fürsts älteste Tochter, Else (Elisabeth) Fürst, 1873 in Leipzig geboren und zu ihrer Zeit eine bekannte Bildhauerin und Medailleurin, wurde 1943 nach Theresienstadt verschleppt und starb dort im gleichen Jahr. Ihre vier Jahre ältere Schwester Helene, die als Violinistin in Berlin lebte, wurde 1944 in Auschwitz umgebracht.[11] (Galerie)


[1] Katharina Vogel, Der Orientalist Julius Fürst (1805–1873). Wissenschaftler, Publizist und engagierter Bürger, in: Stephan Wendehorst (Hg.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, 41–60, hier 41.

[2] Hier zit. n. Stephan Wendehorst, Eine jüdische Geschichte der Universität Leipzig. Konzeption, Umsetzung und Perspektiven, in: Ders. (Hg.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, 11–37, hier 22. Festgehalten ist die Begegnung in den Lebenserinnerungen des Germanisten Georg Witkowski (1863–1939), vgl. Georg Witkowski, Von Menschen und Büchern. Erinnerungen 1863–1933, Leipzig 2010, 15–16.

[3] Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird hier und im Folgenden das generische Maskulinum verwendet. Gemeint sind jedoch immer alle Geschlechter.

[4] Vgl. dazu: Winfried Müller/Martina Schattkowsky (Hgg.), Zwischen Tradition und Modernität. König Johann von Sachsen 1801–1873, Leipzig 2004.

[5] Vgl. Hans-Werner Hahn, Industrialisierung, Wirtschaftspolitik und Deutsche Frage. Sächsische Wirtschaftspolitik unter König Johann 1854–1873, in: Müller/Schattkowsky (Hgg.), Zwischen Tradition und Modernität, 143–163.

[6] Landtags-Acten vom Jahre 1836/37. Zweite Abteilung, die Protocolle der 1sten Kammer enthaltend, Bd. 2, 361; hier zit. n. Michael Schäbitz, Juden in Sachsen – Jüdische Sachsen? Emanzipation, Akkulturation und Integration 1700–1914, Hannover 2006, 121.

[7] Illustrirte Zeitung, 23.4. 1870, 302; Leipziger Zeitung, 14.4.1870, 2446; hier zit. n. Vogel, Der Orientalist Julius Fürst (1805–1873), 56.

[8] Livius Fürst, Persönliches über Julius Fürst, in Ost und West 5 (1905), H. 4, Sp. 247–262; hier zit. n. Vogel, Der Orientalist Julius Fürst (1805–1873), 58.

[9] Julius Pagel, Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin/Wien 1901, Sp. 568–570, hier zit. n. http://www.zeno.org/Pagel-1901/A/F%C3%BCrst,+Livius (letzter Aufruf: 03.03.2022).

[10] Art. Fürst, Livius, in: Archiv Bibliographia Judaica e. V. (Hg.), Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Bd. 8, München 2000, 264–266.

[11] Isidore Singer/Frederick T. Haneman, Livius Fürst, in: Isidore Singer (Hg), Jewish Encyclopedia, Bd. 5, 534, hier zit. n.: http://www.jewishencyclopedia.com//articles/6435-furst-livius (letzter Aufruf: 03.03.2022); vgl. auch Bundesarchiv (Hg.), Das Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933–1945), Koblenz 2006, hier zit. n.: https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/ (letzter Aufruf: 03.03.2022).


Jüdische Gelehrte an der Universität Leipzig. Teilhabe, Benachteiligung und Ausschluss. Leipzig 2022. Alle Rechte vorbehalten.