Traditionell galt Wissen im Judentum als hoher Wert. Bis zur Haskala, der jüdischen Aufklärung, umfasste dieser Wissensbegriff vornehmlich die Kenntnis religiöser Glaubensinhalte sowie heiliger und ritueller Schriften in hebräischer Sprache.[1] Seit dem Ende des 17. Jahrhundert entwickelte sich in Mitteuropa ein breiteres Interesse an den Bildungskulturen der Umgebungsgesellschaften und damit auch für weltliche Wissensgebiete. Dies stieß innerhalb der jüdischen Gemeinden zunächst oft auf Widerstand. Noch in den 1790er Jahren war es aufgrund der Bedenken der Gemeindeelite nicht möglich, in Dresden eine moderne jüdische Schule zu gründen. Viele Juden aus Sachsen studierten aufgrund der Beschränkungen und fehlender beruflicher Perspektiven außerhalb des Landes. Einige Kinder besuchten die neuen Reformschulen, etwa in Seesen und Dessau. In den 1820er Jahren führte der jüdische Privatlehrer Marcus David Landau (1789/90–1859) in Dresden weltliche Unterrichtsfächer wie Erdkunde und allgemeine Geschichte in seinen bisher der Vermittlung religiöser Lehrinhalte vorbehaltenen Unterricht ein. Wenig später lernten jüdische Schüler, etwa der spätere Arzt Elias Collin (1786–1851) und Bernhard Hirschel, im christlichen Kreuzgymnasium (Bild 1 und 2) und studierten, wie Hirschel und der spätere medizinische Hofrat Paul Wolf (1795–1857), an der Universität Leipzig.[2]
Nach der rechtlichen Emanzipation wuchs die Anzahl jüdischer Schüler an höheren Schulen.[3] Gab es 1867 nur 61 jüdische Gymnasiasten, war ihre Zahl vier Jahre später bereits auf 164 gestiegen. Die große Anziehungskraft höherer Bildung für Juden in Sachsen erschließt sich noch eindrücklicher im Vergleich mit den Schülerzahlen anderer Konfessionen. Während 1876 im Durchschnitt aller Religionszugehörigkeiten etwa 96 Prozent der Schulkinder eine Volksschule besuchten, wurde diese Schulform nur von 41 Prozent der jüdischen Schüler gewählt. (Diagramm 3)
Der überwiegende Teil jüdischer Schüler besuchte stattdessen Gymnasien, Privat- und Realschulen oder höhere Töchterschulen.[4] Diese Entwicklung setzte sich auch an den deutschsprachigen Universitäten fort.[5] Allerdings fielen erst nach und nach die jahrhundertealten Barrieren der akademischen Institutionen, die sich in der Vormoderne vor allem als christliche Korporationen verstanden.[6] In Leipzig immatrikulierte sich 1752 Jonas Jeitteles als erster jüdischer Student für das Fach Medizin; (Bild 3) das Promotionsrecht erlangten Juden erst 1784.
Bis 1800 kamen 22 jüdische Studenten nach Leipzig; eine im Vergleich zu Berlin, Frankfurt/Oder, Halle, Königsberg oder Göttingen sehr geringe Zahl.[7] Im 19. Jahrhundert wuchs ihr Anteil rasch an: Zwischen 1833 und 1907 nahmen 2.386 Studierende mit jüdischem Glaubensbekenntnis ein Studium in Leipzig auf.[8] Die größte Steigerung ging mit den allgemein wachsenden Studierendenzahlen nach der Reichseinigung einher.[9] (Diagramm 4) Der Anteil jüdischer Studenten lag 1909 bei vier Prozent und übertraf damit den Anteil der 0,3 Prozent jüdischer Einwohner Sachsens.[10] Zu den jüdischen Studenten gehörten viele Ausländer, die, angezogen vom guten Ruf der Universität, nach Leipzig kamen.
Mit dem Streben nach höherer Bildung verbanden Juden das Ziel einer wirtschaftlichen und sozialen Besserstellung. Zudem verband sich damit der Wunsch nach gesellschaftlicher Teilhabe, der über die habituellen Alltagspraxen des deutschen Bildungsbürgertums in großem Maße erfüllt wurde.[11] Mit Begeisterung gaben sich jüdische Familien der Musik Beethovens hin, folgten in philosophischen Grundfragen dem Idealismus Kants und Hegels und vergötterten die Literatur Goethes und Schillers.[12] Für Literaturwissenschaftler jüdischer Herkunft wie Michael Bernays (1834–1897) und Georg Witkowski (1863–1939) wurde die Verehrung der deutschen Literatur zur akademischen Lebensaufgabe. Witkowskis Goethe-Biografie gehörte zu den Klassikern des Genres. (Bild 4 und 5)
[1] Robert Liberles, An der Schwelle zur Moderne. 1680–1780, in: Marion Kaplan (Hg.), Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland. Vom 17. Jahrhundert bis 1945, München 2003, 21–122, hier bes. 70.
[2] Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004, 402.
[3] Nicht nur in Sachsen: Im Laufe des 19. Jahrhunderts nahm überall in Deutschland die Zahl jüdischer Absolventen höherer Schulen enorm zu. Vgl. Uffa Jensen, Art. Bildung, in: Dan Diner (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 1, Stuttgart 2011, 342–346, hier bes. 344.
[4] Im Jahr 1880 besuchten etwa 17 Prozent der jüdischen, aber nicht einmal ein Prozent der evangelischen Schüler ein Gymnasium. vgl. Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum, 235–237.
[5] Jensen, Art. Bildung, 344.
[6] Zum Verhältnis von Juden und Universität in der Frühen Neuzeit vgl. Abraham David u.a. (Hg.), Leipziger Judentümer in Stadt und Universität. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Bibliotheca Albertina Leipzig, 13. Januar bis 25 April 2010, Leipzig 2010.
[7] Monika Richarz, Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe, Tübingen 1974, 46.
[8] Datensatz des Leipziger Universitätsarchivs von Studenten (1798–1909), deren Matrikeleinträge eine jüdische Religionszugehörigkeit verzeichnen. Es handelt sich um 3.977 Einträge, wobei Mehrfacheinschreibungen an der Universität zu berücksichtigen sind.
[9] Während 1864 mit 904 Studierenden in etwa die gleiche Anzahl wie noch 1817 eingeschrieben war, schnellte dieser Wert zwischen 1864 und 1909 auf 4.115 in die Höhe. Vgl. Franz Eulenburg, Die Entwicklung der Universität Leipzig in den letzten hundert Jahren. Nachdruck der Ausgabe von 1909 im Auftrag der Historischen Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Stuttgart 1995, 17; vgl. auch: Jens Blecher, Landesuniversität mit Weltgeltung. Die Alma mater Lipsiensis zwischen Reichsgründung und Fünfhundertjahrfeier 1871–1909, in: Hartmut Zwahr/Jens Blecher (Hgg.), Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 2, Leipzig 2010, 553–838, hier bes. 755.
[10] Eulenburg, Die Entwicklung der Universität Leipzig in den letzten hundert Jahren, 82.
[11] Simone Lässig, Art. Bürgertum, in: Diner, Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Stuttgart 2011, 471–476.
[12] Vgl. Doris Davidsohn, Erinnerungen einer deutschen Jüdin, in: Der Jüdische Wille 2 (1919), H. 1, 47–57.