Protestantische Landesuniversität Leipzig

Blick auf den Altar im Paulinum in Leipzig │ UAL

Die Universität Leipzig nahm im sächsischen Königreich eine herausragende Stellung ein. Zur Illustration dieser Rolle rief der Rechtshistoriker Eugen Rosenstock-Huessy (1888–1973) während einer 1950 gehaltenen Rede über „Das Geheimnis der Universität“ eine einprägsame historische Beobachtung auf: Während in Preußen bei offiziellen Zeremonien des Königshauses der Universitätsrektor erst hinter dem jüngsten Brigadegeneral in den Saal trat, folgte in Kursachsen „der Rector magnificus […] gleich hinter den Prinzen des königlichen Hauses“.[1]

Die weitgehende Eigenständigkeit der Universität beruhte seit der Durchsetzungsphase der Reformation auch auf ihrem protestantisch-lutherischen Selbstverständnis. Nach der Einführung des Protestantismus als Landesreligion 1539 wurde die Universität Leipzig zur institutionellen Stütze der geistigen Erneuerung. Unter Herzog Moritz (1521–1553) erfuhr sie erhebliche Geldzuwendungen, was sie zu einer der am besten ausgestatten Hochschulen ihrer Zeit werden ließ. Hinzu kam die Übertragung städtischen Grundbesitzes, darunter die Gebäude des ehemaligen Dominikanerklosters mitsamt der gotischen Kirche St. Pauli, die von der Universität in der Folge als Collegium Paulinum genutzt wurde. (Bild 1) Auch durch den Besitz mehrerer abgabenpflichtiger Dörfer nahm die Universität einen mit adligen Landbesitzern vergleichbaren Status ein und war durch ihren Rektor im Landtag vertreten.[2] Mit der Unterstützung durch die sächsische Krone stieg der Einfluss des Landesherren auf die vormals in vielen Bereichen von der Fürstenherrschaft unabhängige Bildungseinrichtung.[3]

Als Ende des 17. Jahrhunderts Kurfürst Friedrich August I. zum katholischen Glauben wechselte, um damit eine Voraussetzung für die angestrebte Wahl zum polnischen König zu erfüllen, etablierte er einen religiösen Gegensatz zwischen dem Königshaus und den protestantischen Ständen im sächsischen Stammland. Für die Universität verband sich fortan die Ausübung ihrer Standesrechte mit der Wahrung ihres protestantischen Charakters. Im Zuge der Verfassungsreform von 1831 wurde die Universität zwar stärker in das moderne konstitutionelle Staatswesen eingebunden und verlor einen Teil ihrer ständischen Privilegien. Allerdings blieb der konfessionelle Aspekt davon unberührt, ja wurde eher noch stärker hervorgehoben. (Galerie 1)

Auch die im Vormärz und während der Revolution von 1848/49 erkennbare Stärkung des bürgerliches Selbstverständnisses von Professoren und Studenten löste die religiösen Vorbehalte gegenüber Juden nicht auf.[4] Zwar kam es allenthalben zu Liberalisierungen; so wurde etwa mit Isidor Kaim (1817–1880) der erste Jude in Leipzig zum juristischen Staatsexamen zugelassen und konnte im Februar 1848 in der Stadt eine Kanzlei eröffnen. Doch blieben solche Entscheidungen immer außergewöhnlich, während gleichzeitig das christliche Glaubensbekenntnis als allgemein verbindliche Norm bestätigt wurde. Am 27. Dezember 1855 überreichte der sächsische König Johann dem Rektor der Universität, Otto Linné Erdmann (1804–1869), einem bekennenden Liberalen, der 1849 Gewehre an die Leipziger Studenten austeilen ließ, bei einer feierlichen Zeremonie die neu gestaltete Rektorkette. Die kostbare, mit 72 Rubinen und 13 Smaragden verzierte Goldschmiedearbeit trug eine Medaille mit dem eingelassenen Profilbild des Königs und verdeutlichte so die dynastische Verbindung von Universität und Herrscherhaus. In seiner Ansprache formulierte der Monarch den Auftrag der Landesuniversität. Diese solle „den Sinn für Recht und Sittlichkeit, für Treue gegen König und Gesetz, für echte Wissenschaftlichkeit und echte christliche Frömmigkeit in die Herzen des heranwachsenden Geschlechts einpflanzen; dann werden Sachsens Fürsten sie stets als einen der schönsten Juwele in ihrer Krone betrachten“.[5] (Bild 2)

Während es Juden in Dänemark, Belgien, der Schweiz und Frankreich schon im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts möglich war, eine Professur zu erhalten, kämpfte in Leipzig der zu seiner Zeit wissenschaftlich anerkannte Julius Fürst um einen angemessenen Status als Hochschullehrer.[6] Die Lehrbefugnis über den Weg einer regulären Habilitation blieb ihm aufgrund der protestantischen Statuten der Universität versperrt. Zum ersten jüdischen Hochschullehrer wurde er 1839 nur aufgrund einer Sondergenehmigung der Regierung ernannt.

Im Zuge der Reichseinigung wurden die Werte der bürgerlichen Revolution nicht gänzlich zurückgedrängt, aber doch vom nationalen Patriotismus überlagert.[7] Dies blieb nicht ohne integrativen Effekt, was die Frage unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse betraf. So sprach sich der Leipziger Universitätssenat 1871 in einer Debatte über das würdige Gedenken an die gefallenen Universitätsangehörigen des Krieges gegen Frankreich dafür aus, auch der Toten „fremder Confession und selbst fremder Religion“ zu gedenken.[8] Die Universität entwickelte sich in den folgenden Jahren, getrieben von einer rasanten Modernisierung der Wirtschafts- und Sozialstruktur, zu einer Bildungseinrichtung mit Weltgeltung.[9] Die Studentenzahlen und die rege Bautätigkeit ließen den wachsenden Stellenwert moderner Wissenschaft erkennen.[10] Dieser rührte aus dem enormen Fachkräftebedarf der sich rasant industrialisierenden und urbanisierenden Gesellschaft und war zudem das Ergebnis der vorherrschenden bürgerlichen Bildungskultur. (Bild 3) In der Folge zog es auch viele ausländische Studierende nach Leipzig. Ihre Zahl stieg seit 1882 langsam, aber kontinuierlich; 1905 lag sie erstmals über 500 und wuchs bis 1911 auf 700 an.[11] Viele waren Juden aus den an Sachsen angrenzenden Gebieten Österreich-Ungarns, eine andere große Gruppe jüdischer Studenten kam aus dem Ansiedlungsrayon, also den westlichen Gebieten des Russischen Reichs, in denen Juden der ständige Aufenthalt erlaubt war.[12] Aber auch aus Westeuropa und Amerika zog es viele Studenten nach Leipzig.[13] (Diagramme 5 und 6)

Doch blieben jüdische Akademiker, insbesondere diejenigen, die an der Universität beruflich aufsteigen wollten, weiterhin benachteiligt. (Galerie 2) Wie auch an anderen Universitäten war der Taufdruck in Leipzig hoch und besonders der Weg zum Ordinarius blieb Juden verstellt.[14] So erhielt der Pathologe Carl Weigert (1845–1904) zwar 1879 eine außerordentliche Professur am Lehrstuhl seines getauften Mentors Julius Cohnheim (1839–1884), wurde aber nach dessen Ableben aufgrund seines Religionsbekenntnisses als Nachfolger in der Leitung des Pathologischen Instituts übergangen. (Galerie 3)

Weigert ging 1885 nach Frankfurt am Main und leitete hier als ordentlicher Professor das Pathologisch-Anatomische Institut. Es finden sich noch eine Reihe ähnlicher Beispiele. Bis zum Beginn der Weimarer Republik war das Erreichen einer ordentlichen Professur für Juden an der Leipziger Universität faktisch unmöglich.[15]


[1] Eugen Rosenstock-Huessy, Das Geheimnis der Universität, in: Ders., Das Geheimnis der Universität. Wider den Verfall von Zeit, Sinn und Sprachkraft. Aufsätze und Reden aus den Jahren 1950–57, Stuttgart 1958, 17–34, hier 19; hier zit. n. Stephan Wendehorst, Eine jüdische Geschichte der Universität Leipzig. Konzeption, Umsetzung, Perspektiven, in: Ders. (Hg.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, 11–37, hier 30.

[2] Konrad Krause, Alma mater Lipsiensis. Geschichte der Universität Leipzig von 1409 bis zur Gegenwart, Leipzig 2003, 56.

[3] Jens Blecher, Hoch geehrt und viel getadelt. Die Leipziger Universitätsrektoren und ihr Amt bis 1933, in: Franz Häuser (Hg.), Die Leipziger Rektoratsreden 1871–1933 Bd. 1, Berlin/New York 2009, 7–36, hier 19.

[4] Hartmut Zwahr, Im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft. Von der Universitätsreform bis zur Reichsgründung 1830/31–1871, in: Hartmut Zwahr/Jens Blecher (Hgg.), Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 2, Leipzig 2010, 19–547, hier 393.

[5] Hier zit. n. Zwahr, Im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft, 417.

[6] Als erster jüdischer Professor in Deutschland wurde 1859 der Göttinger Mathematiker Moritz Stern (1807–1894) berufen. Vgl. Monika Richarz, Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe, Tübingen 1974, 206.

[7] Ebd., 538–547.

[8] Bericht des Senats vom 27. Oktober 1871, hier zit. n. ebd., 542.

[9] Vgl. Jens Blecher, Landesuniversität mit Weltgeltung. Die Alma mater Lipsiensis zwischen Reichsgründung und Fünfhundertjahrfeier 1871–1909, in: Hartmut Zwahr/Jens Blecher (Hgg.), Das neunzehnte Jahrhundert 1830/31–1909, Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 2, Leipzig 2010, 553–838, hier 553–573.

[10] Zu den Neubauten gehörten das Zoologische Institut (1880), das Pharmakologische Institut (1888), das Phyikalisch-Chemische Institut (1897), das Physikalische Institut (1903), das Institut für Angewandte Chemie (1906) und das Hygienische Institut (1907) u.a.m; vgl. Blecher, Landesuniversität mit Weltgeltung, 560–561. Für einen Einblick in die vielfältigen Modernisierungserscheinungen der Zeit in Sachsen vgl. Karlheinz Blaschke, Grundzüge sächsischer Geschichte zwischen der Reichsgründung und dem Ersten Weltkrieg, in: Simone Lässig/Karl Heinrich Pohl (Hgg.), Sachsen im Kaiserreich. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Umbruch, Weimar u.a. 1997, 11–26.

[11] Blecher, Landesuniversität mit Weltgeltung, 755.

[12] Yvonne Kleinmann, ‚Ausländer‘–‚Russen‘–‚Sozialisten‘. Jüdische Studenten aus dem östlichen Europa in Leipzig, 1880–1914, in: Wendehorst, Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, 517–540, hier bes. 525.

[13] Zwischen 1850 und 1914 studierten 1.655 akademische Besucher aus den Vereinigten Staaten in Leipzig. Vgl. Anja Becker/Tobias Brinkmann, Transatlantische Bildungsmigration. Amerikanisch-jüdische Studenten an der Universität Leipzig 1872 bis 1914, in: Wendehorst, Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, 61–98, hier 63.

[14] Trude Maurer, Art. Universitäten, in: Dan Diner (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 6, Stuttgart 2015, 223–228, hier bes. 226; vgl. auch Notker Hammerstein, Jüdische Professoren an deutschen Universitäten, in: Renate Heuer/Ralph-Rainer Wuthenow (Hgg.), Konfrontation und Koexistenz. Zur Geschichte des deutschen Judentums, Frankfurt am Main 1996, 160–176, hier 167.

[15]  Wendehorst, Eine jüdische Geschichte der Universität Leipzig, 16.

Jüdische Gelehrte an der Universität Leipzig. Teilhabe, Benachteiligung und Ausschluss. Leipzig 2022. Alle Rechte vorbehalten.