Erwin Jacobi (1884–1965)
Erwin Jacobi wurde am 15. Januar 1884 in Zittau geboren. Er war das erste von vier Kindern des jüdischen Kaufmanns Rudolf Jacobi, Eigentümer eines Modehauses, und dessen Ehefrau Emma, geborene Smith, Tochter eines in der Lausitz ansässig gewordenen englischen Textilfabrikbesitzers. Die Kinder wurden nach der Religion der Mutter evangelisch getauft. Erwin Jacobi besuchte ab 1894 das Gymnasium Johanneum in seiner Heimatsstadt. Wie später auch seine Geschwister kam er in den Genuss einer umfassenden schulischen und musikalischen Ausbildung. Jacobi spielte Geige und hatte als Jugendlicher den Wunsch, Musiker zu werden. Doch unter dem Druck der Eltern schrieb er sich im Sommersemester 1903 für Rechtswissenschaften an der Universität München ein.[1]
Bereits ein Jahr später wechselte er an die Universität Leipzig. (Bild 1) Nach seinem Referendarsexamen in Dresden wurde er 1907 in Leipzig bei Emil Friedberg im Kirchenrecht promoviert. (Bild 2) Nach seiner 1912 erfolgten Habilitation arbeitete Jacobi vier Jahre als Privatdozent für Verwaltungs- und Staatsrecht. Nachdem er sich nach Beginn des Ersten Weltkriegs als Einjährig-Freiwilliger zum Landsturm gemeldet hatte, wurde seine akademische Laufbahn 1916 zwischenzeitlich unterbrochen, wobei er auch als Soldat in Frankreich Vorträge hielt, etwa für den sächsischen Kronprinzen.[2] Noch im selben Jahr berief ihn die Leipziger Universität nach einer Nachhabilitierung auf eine Professur für Staatsrecht.
Zentrale Grundhaltungen Jacobis wurden deutlich, als während der Revolutionswirren Ende 1918 von der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) dominierte Arbeiter- und Soldatenräte zeitweise auch in Leipzig die Macht übernahmen. Jacobi befürwortete das Rätesystem nicht und sprach sich stattdessen für eine verfassungsmäßige Staatsgewalt, parlamentarische Demokratie und Gewaltenteilung aus.[3]
Gegenüber seinem Freund, dem Rechtshistoriker Eugen Rosenstock-Huessy,[4] verteidigte er die „sittliche Notwendigkeit einer Zwangsordnung“.[5] Und während Rosenstock-Huessy die restriktiven strafrechtlichen Prozesse gegen die Teilnehmer der Münchner Räterepublik scharf kritisierte, sah Jacobi darin den Ausdruck einer Ordnung, die, selbst wenn sie schlecht sei, um ihrer selbst willen aufrechterhalten werden müsse.[6]
Jacobis beruflicher Aufstieg verband sich mit der Stabilisierung der Weimarer Republik. Nach einem kurzen Intermezzo als ordentlicher Professor in Greifswald kam er noch im selben Jahr als Lehrstuhlinhaber der Professur für Öffentliches Recht nach Leipzig zurück. Neben Kirchenrecht und Staatsrecht befasste er sich jetzt als einer der Ersten mit der juristischen Gestaltung der Wirtschafts- und Arbeitswelt, etwa durch Arbeiten zur Sozialversicherung und zur betrieblichen Mitbestimmung. 1921 gründete er das Institut für Arbeitsrecht an der Universität Leipzig, das neben Einrichtungen in Jena und Frankfurt am Main zu den zentralen Institutionen der arbeitsrechtlichen Forschung in der Weimarer Republik gehörte. Das Institut veranstaltete eigene Vorlesungen im Arbeits- und Sozialrecht, gab eine Schriftenreihe heraus und lud auswärtige Experten der neuen Fachdisziplin, etwa Walter Kaskel aus Berlin, Hugo Sinzheimer aus Frankfurt am Main und Eugen Rosenstock-Huessy aus Breslau, zu Gastvorträgen ein.[7] Daneben trat Erwin Jacobi als Dozent für die Volkshochschule in Leipzig in Erscheinung und hielt hier unter anderem Vorträge über das „Recht des Arbeiters“.[8] (Bild 3)
Jacobi reflektierte die sozialen und politischen Verwerfungen der Zeit, wobei er eine stark ausgeprägte Sehnsucht nach staatlicher Souveränität artikulierte. Nicht nur die Erfahrungen der Weltkriegsniederlage, der Novemberrevolution und der Münchner Räterepublik, sondern auch die turbulenten Entwicklungen in der jungen Weimarer Republik, in der auf den Kapp-Putsch 1920 und den Terror rechtsradikaler Freikorps 1923 die Reichsexekutionen gegen sozialdemokratisch-kommunistische Koalitionsregierungen in Sachsen und Thüringen und damit einhergehende Unruhen folgten, bildeten den dafür ausschlaggebenden Ereignishintergrund. So wurde Jacobi zwar nicht zu einem Gegner der Weimarer Verfassung, kommentierte diese allerdings kritisch. Seine Befürchtung, staatliche Strukturen würden von den Interessenskämpfen der Parteien und Massenorganisationen pulverisiert, verband ihn mit dem antiliberalen Staatsrechtler Carl Schmitt. Bekanntheit erlangten beide, als sie mit aufeinander abgestimmten Referaten auf der im April 1924 in Jena stattfindenden Versammlung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, über Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV sprachen. Ihr Plädoyer für eine Ausweitung der Notverordnungskompetenzen des Reichspräsidenten bei gleichzeitiger verfassungsimmanenter Beschränkung diktatorischer Maßnahmen war umstritten, das Notverordnungsrecht an sich war es zu dieser Zeit nicht.[9]
Die Zusammenarbeit mit Schmitt setzte sich später im sogenannten Preußensschlag-Prozess fort. Gegenstand der Auseinandersetzung war die Frage, ob die am 20. Juli 1932 erfolgte Absetzung einer SPD-geführten Regierungskoalition in Preußen durch den Reichskanzler Franz von Papen rechtmäßig vollzogen wurde. Die Verhandlung darüber fand im darauffolgendem Oktober am Leipziger Reichsgericht statt. Carl Bilfinger, Carl Schmitt und Erwin Jacobi vertraten die Reichsregierung, wobei letzterer als Fürsprecher einer verfassungsrechtlich legitimierten Zentralgewalt mit starken Sonderrechten und als Kenner der Verhältnisse am Leipziger Reichsgericht ausgewählt wurde.[10] Im Ergebnis der Verhandlung legitimierte das Gericht die Anwendung der Notverordnung, stufte aber die erfolgte Absetzung der sozialdemokratischen Landesregierung als verfassungswidrig ein. Da diesem Urteil nicht die rechtmäßige Wiedereinsetzung der Regierung folgte, werden das Ereignis und seine juristisch umstrittene Bewertung als ein verfassungsrechtlicher Bestandteil des Niedergangs der Weimarer Republik betrachtet.[11]
Mit der Einführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums im April 1933 drohte Jacobi, der als „nichtarischer Beamter“ eingestuft wurde, die Versetzung in den Ruhestand.[12] Daraufhin versuchte er, die Ausnahmeregelung zu beanspruchen, die für jüdische Teilnehmer am Ersten Weltkrieg und für Staatsbedienstete galt, die bereits vor dem 1. August 1914 als solche tätig waren. Das drohende Ende seiner Universitätslaufbahn vor Augen, suchte Jacobi bei Schmitt um Unterstützung nach. In einem Brief machte er deutlich, dass er sich zu Unrecht dem Vorwurf nationaler Unzuverlässigkeit ausgesetzt sah, kritisierte also weder den staatsautoritären noch den antisemitischen Charakter der Maßnahme. Er bat den prominenten Freund, sich für eine Ausführungsverordnung einzusetzen, die Jacobis Zeit als Privatdozent in Leipzig seit 1912 als beamtengleiches Verhältnis anerkennen sollte.[13] Schmitt antwortete schriftlich als Preußischer Staatsrat, zu dem er nur wenige Tage zuvor von Hermann Göring berufen worden war. Er attestierte Jacobi, sich im „gefährlichen Kampf um die Beseitigung einer marxistischen Regierung“ in einer Weise als national zuverlässig erwiesen zu haben, die einem altbewährten Beamtenverhältnis gleichgestellt sei. Schmitt ermutigte Jacobi von dieser Referenz beliebigen Gebrauch zu machen.[14] (Bild 4) Tatsächlich leitete jener das Schreiben an das sächsische Volksbildungsministerium weiter und organsierte weitere Fürsprachen von Kollegen. Seine Bemühungen blieben erfolglos. Im Oktober 1933 wurde er in den Zwangsruhestand verabschiedet.
Die Zeit des Nationalsozialismus überstand Jacobi in Leipzig. Im Sinne der Nürnberger Rassengesetze als „Halbjude“ in einer „Mischehe“ mit einer Nichtjüdin verheiratet, schützte ihn dieser Status vor der Deportation. Der Verpflichtung zum Arbeitsdienst in der Rüstungsindustrie entging er, weil ein ehemaliger Schüler die dafür notwendigen Behördenunterlagen verschwinden ließ.[15] Als weiterer glücklicher Umstand kam hinzu, dass Kollegen und Freunde, etwa die am Reichsgericht zugelassenen Anwälte Hans Drost und Harald Hansen, der Leipziger Professor für Strafrecht Eberhard Schmidt und der Atomphysiker Werner Heisenberg den sozialen Kontakt mit dem Verfolgten aufrechterhielten.[16]
Nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland 1945 wurde Jacobi mehrfach von Kollegen, Freunden und Schülern gebeten, ihnen ein korrektes Verhalten und eine antifaschistische Einstellung zu attestieren. Jacobi kam dieser Bitte vielfach nach. So verwand er sich auch für Eberhard Schmidt, nachdem dieser im April 1945 von den Amerikanern verhaftet worden war und ihm seine Tätigkeit als Oberkriegsgerichtsrat vorgeworfen wurde.[17] Jacobi stellte Schmidt als einen „unbedingten Gegner des Nationalsozialismus“ dar und bescheinigte ihm, als Richter unabhängig von der nationalsozialistischen Ideologie gewirkt zu haben. (Galerie 1) Zwar waren solche Urteile Jacobis zum Teil durch seine eigenen persönlichen Erfahrungen gedeckt – Schmidt hatte sich auch in der Öffentlichkeit mit Jacobi gezeigt und die Familie Jacobi nach der Zerstörung ihrer Wohnung bei einem Bombenangriff im Februar 1945 bei sich aufgenommen. Gleichwohl stellt sich die Frage, inwiefern die „Persilscheine“ Jacobis der komplexen Verstrickung der beleumundeten Personen in den nationalsozialistischen Herrschaftsapparat jeweils gerecht wurden.[18]
Am 10. Oktober 1945 wurde Jacobi an der sich neu konstituierenden Universität Leipzig wieder zum Professor berufen und auch als Direktor des Instituts für Arbeitsrecht eingesetzt.
Von 1947 bis 1949 wirkte er als Rektor, von 1949 bis 1958 als Dekan der Juristenfakultät. Jacobi, der mehrere Angebote westdeutscher Universitäten ausschlug, wurde als Opfer des Faschismus anerkannt und von den neuen Machthabern in der DDR als fortschrittlicher bürgerlicher Gelehrter eingestuft. Gerade aber seine bürgerliche Herkunft und sein nach wie vor bürgerliches Rechtsverständnis machten ihn dem sozialistischen Staat auch suspekt. Unter anderem als Freund von Ernst Bloch und Hans Mayer, mit denen er gemeinsam musizierte, geriet Jacobi ins Visier der Staatssicherheit. Hinweise auf mangelnde Loyalität gegenüber dem sozialistischen Staat fand der Geheimdienst des SED-Staates nicht. Im Jahr seiner Emeritierung 1959 erhielt er im Rahmen des Universitätsjubiläums den Vaterländischen Verdienstorden in Silber. Für sein Bleiben und seine kooperative Rolle in der DDR wurde neben privaten Gründen auch seine „positivistisch-etatistische Prägung“ angeführt.[19] Am Ende seines Schaffens engagierte sich Jacobi als Mitglied der Evangelischen-lutherischen Synode der Landeskirche Sachsens und zog sich mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten auf den Bereich des Kirchenrechts zurück.
Ausgewählte Werke von Erwin Jacobi
- Patronate juristischer Personen, Stuttgart 1912.
- Religiöse Kindererziehung nach sächsischem Recht, Tübingen 1914.
- Die Träger der Sozialversicherung und ihre Angehörigen, Leipzig 1916.
- Der Rechtsbestand der deutschen Bundesstaaten, Leipzig 1917.
- Einheitsstaat oder Bundesstaat, Leipzig 1919.
- Einführung in das Gewerbe- und Arbeiterrecht, Leipzig 1919.
- Der deutsche Föderalismus. Die Diktatur des Reichspräsidenten: Verhandlungen der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer zu Jena am 14. und 15. April 1924, Nachdruck, Berlin/Boston 2013.
- Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, Leipzig 1926.
- Grundlehren des Arbeitsrechts, Leipzig 1927.
- Die verfassungsmässigen Wahlrechtsgrundsätze als Gegenstand richterlicher Entscheidung, Leipzig 1932.
- Festschrift für Erwin Jacobi, Berlin 1957.
- Kirchliches Dienstrecht und staatliches Arbeitsrecht in der Deutschen Demokratischen Republik, Tübingen 1958.
- Freie Wahlen und geheime Abstimmung in der bürgerlichen Demokratie, Berlin 1958.
[1] Martin Otto, Von der Eigenkirche zum volkseigenen Betrieb. Erwin Jacobi (1884–1965). Arbeits-, Staats- und Kirchenrecht zwischen Kaiserreich und DDR, Tübingen 2008, hier bes. 17–19.
[2] Helmut Goerlich, Erwin Jacobi (1884–1965), in: Peter Häberle u.a. (Hg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts. Deutschland–Österreich–Schweiz, Berlin/Boston 2015, 335–349.
[3] Ebd., 44–45
[4] Martin Otto, Habilitandenjahrgang 1912. Wege und Wirkungen einer rechtshistorischen Generation, in: Raphael Gross (Hg.), Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts, Bd. 14, Göttingen 2015, 297–323. In diesem Band ist Rosenstock-Huessy ein ganzer Schwerpunktteil gewidmet; vgl. https://www.dubnow.de/publikation/jahrbuch-des-simon-dubnow-instituts-simon-dubnow-institute-yearbook-14 (letzter Aufruf: 06.05.2022).
[5] Hier zit. n. Otto, Von der Eigenkirche zum volkseigenen Betrieb, 47.
[6] Vgl. auch Otto, Habilitandenjahrgang 1912, 317.
[7] Otto, Von der Eigenkirche zum volkseigenen Betrieb, 71.
[8] Steffen Held, Jüdische Hochschullehrer und Studierende an der Leipziger Juristenfakultät. Institutionen und Akteure von der Weimarer Republik bis in die frühe DDR, in: Stephan Wendehorst (Hg.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, 207–244, 218.
[9] Otto,Von der Eigenkirche zum volkseigenen Betrieb, 86–90.
[10] Held, Jüdische Hochschullehrer und Studierende an der Leipziger Juristenfakultät, 223.
[11] Michael Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, München 1999, 121.
[12] Otto, Von der Eigenkirche zum volkseigenen Betrieb, 234–240.
[13] Ebd., 234–237.
[14] Auch wenn Schmitt für Jacobi Partei ergriff, war bereits sein antimodernes Denken von grundlegend antisemitischen Zügen gekennzeichnet. Mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten wurde seine Ablehnung von Parlamentarismus, Liberalität und Rechtsstaatlichkeit als vermeintliche Konzepte „jüdischen Geistes“ unter auf der von Schmitt 1936 organisierten Tagung über „Das Judentum in der Rechtswissenschaft“ explizit. Vgl. grundlegend: Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main 2005.
[15] Hubert Lang, Zwischen allen Stühlen. Juristen jüdischer Herkunft in Leipzig (1848–1953), Leipzig 2014, 392.
[16] Held, Jüdische Hochschullehrer und Studierende an der Leipziger Juristenfakultät, 229; vgl. auch Otto, Von der Eigenkirche zum volkseigenen Betrieb, 250.
[17] Saskia Paul, Wiedergutmachung und Entnazifizierung an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig von 1945 bis zur Wiedereröffnung am 1. Juli 1948, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 12 (2014), 144–158, hier bes. 145.
[18] Vgl. zu weiteren Personen, denen Jacobi eine antifaschistische Einstellung bescheinigte: Otto, Von der Eigenkirche zum volkseigenen Betrieb, 274.
[19] Otto, Von der Eigenkirche zum volkseigenen Betrieb, 413.